Er führte das Buch an die Nase und schnüffelte daran. Er konnte einen leicht muffigen Geruch wahrnehmen, aber im Großen und Ganzen hatten die Verpackung und der trockene Dachboden das Buch hervorragend erhalten – und das nun schon über hundert Jahre lang.
Aber warum hat Errol es nie geöffnet? , fragte er sich. Vielleicht, weil es angekommen war, bevor er auf die Welt kam und weil es nicht direkt an ihn adressiert war? Oder vielleicht war es einfach schon verstaut worden und er wusste gar nichts von der Existenz dieses Umschlages?
Ben schlug das Buch auf und las die Widmung. Sie kam vom Autor selbst:
An meinen guten Freund Benjamin Cartwright,
Ihre Erfahrungen haben meine Vorstellungskraft entzündet und dies ist das Ergebnis. Ich hoffe auf eine baldige Korrespondenz.
Ihr Freund, Arthur Conan Doyle
Ben lächelte wehmütig. Wir Cartwrights hatten ganz schön berühmte Freunde , dachte er und seufzte dann. Der Brief verriet ihm, dass Doyle offensichtlich nicht wusste, dass Benjamin schon etwa vier Jahre, bevor das Buch gedruckt wurde, im venezolanischen Dschungel gestorben war.
Vorsichtig begann er, hier und da ein paar Seiten zu lesen, wodurch er den groben Verlauf der Story kennenlernte: Ein Reporter namens Edward Malone erfährt durch ein Interview mit einem gewissen Professor Challenger, dass es auf einer Hochebene im Amazonas noch lebende Dinosaurier geben soll.
Ben lächelte, als er weiterlas. Im Handumdrehen hatte Challenger eine kleine Gruppe von Unterstützern zusammengetrommelt, die den besagten Ort tatsächlich finden und dort auf die Kreaturen treffen, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen.
Klar, logisch , dachte Ben schmunzelnd. Dann betrachtete er das Buch von allen Seiten und bewunderte seine hochwertige Machart. Er hatte keine Ahnung, wie viel es wert sein konnte, doch klar war, dass er es keinen Tag länger in dieser Truhe verstauben lassen würde. Er wickelte es wieder in das Wachstuch und legte es dann auf den Tisch, wo auch seine Bierflasche stand.
Das nächste Paket, das er herauszog, war ein Bündel von Briefen, die mit einer vom Alter ganz fleckigen Kordel umwickelt waren. Er öffnete den Knoten und fächerte die Umschläge vor sich auf. Offenbar stellten sie den früheren Austausch zwischen Benjamin und Doyle dar.
Ben atmete tief durch. Es stimmte also wirklich , dachte er und erinnerte sich gut daran, wie sein Vater ihn mit Anekdoten von Benjamin in Staunen versetzt hatte, dem Abenteurer in der Familie, der auf viele Expeditionen an die entlegensten Winkel der Erde aufgebrochen war, von denen die verhängnisvolle letzte im Jahr 1908 stattgefunden hatte. Seine Ehefrau hatte den Rücktransport der sterblichen Überreste aus einem abgelegenen Dorf am Rande des Amazonas organisieren müssen.
Ben öffnete den ersten Brief, der auf das Jahr 1906 datiert war. Es ging darin um die Vorbereitungen besagter Expedition, er lud Arthur Conan Doyle sogar ein, ihn zu begleiten, um alles zu dokumentieren.
Gespannt las er weiter. Es gab Diskussionen um die Finanzierung, was man mitnehmen solle, und am Rande ging es um die politische Situation dieser Zeit.
Doyles Antwort drückte großes Interesse an der Expedition aus, doch höflich lehnte er die Einladung ab. Gleichzeitig bot er aber an, einen Beitrag zur Finanzierung der Reise zu leisten, falls Benjamin Schwierigkeiten haben sollte, das Geld zusammenzubekommen.
Ben schaute sich die Daten der verschiedenen Briefe an und grinste – sie lagen viele Wochen auseinander, manchmal gar Monate. So lange hatte eben zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die Kommunikation über verschiedene Kontinente hinweg gedauert. Heute konnte man quasi ohne Zeitverzögerung mit Menschen auf der ganzen Welt reden, eine Errungenschaft, die Sir Arthur Conan Doyle sich höchstens in seinen fiktionalen Romanen hätte vorstellen können.
Ben nahm noch einen Schluck von seinem Bier und öffnete einen weiteren Umschlag, wobei ihm auffiel, wie viel Spaß es ihm bereitete, in die Gedankenwelt dieser bemerkenswerten Herrschaften einzutauchen. Im nächsten Brief beschrieb Benjamin, was er zu finden hoffte – er berichtete, von einem Ort gehört zu haben, der nur einmal alle zehn Jahre in der sogenannten »feuchtesten Regenzeit« auftauchen sollte und in dem sich fantastische Kreaturen herumtrieben. Es sollte sich dabei um ein verstecktes Plateau in einem unerforschten Bereich des Amazonas-Dschungels handeln und in Benjamin Cartwrights eigenen Worten würde seine Entdeckung alles infrage stellen, was man über Biologie und die Evolution wusste.
»Das gibt’s doch nicht!« Bens Stirn legte sich in Falten. Das versteckte Plateau, der südamerikanische Dschungel, das Umdeuten der Naturgesetze – hier kamen alle Elemente von Doyles fantastischer Erzählung zusammen. Er schnappte sich noch einmal die Erstausgabe der »Vergessenen Welt« und wickelte sie erneut behutsam aus, um die Widmung ein zweites Mal zu lesen:
An meinen guten Freund Benjamin Cartwright, Ihre Erfahrungen haben meine Vorstellungskraft entzündet und dies ist das Ergebnis – das hatte Sir Arthur Conan Doyle vor über einem Jahrhundert geschrieben. Hatte er das wörtlich gemeint? Dass Benjamin Cartwright damals wirklich das unternommen hatte, was er hier in diesen Briefen beschrieb? Ben kicherte, als er das Buch zuklappte und es wieder auf den Tisch legte.
Unmöglich , dachte er, doch nun war sein Interesse geweckt. Er griff nach dem nächsten Brief auf dem Stapel, wieder in der Handschrift des berühmten Autors verfasst. Vorsichtig öffnete er den Umschlag und las.
Lieber Benjamin,
mein geschätzter Freund, ich schreibe dies an Ihre unsterbliche Seele oder vielleicht an Ihre Erben. Ihr Verscheiden aus dieser Welt hat mich sehr getroffen und führt mir meine eigene Sterblichkeit vor Augen. Doch Sie, mein Herr, werden nun für immer als der tapfere, junge Abenteurer in Erinnerung bleiben, der Sie waren.
Ihr Notizbuch war und ist von unschätzbarem Wert, deswegen werde ich es mit meinen Lieblingsgegenständen an einem geheimen Ort aufbewahren, den nur wir beide kennen – unter der Erde im Windlesham Manor.
Ihr Freund in aller Ewigkeit, Arthur Conan Doyle
Unter der Erde? Er hat es allen Ernstes vergraben? Ben schnaubte verächtlich. »Toll gemacht, Arthur.« Er legte den alten Brief zur Seite und schnappte sich den nächsten. Dies war ein weitaus größerer Umschlag, datiert auf 1931, und er sah deutlich geschäftlicher aus. Er war ungeöffnet und an das Anwesen Benjamin Cartwright adressiert, genau wie Doyles letzter Brief, in dem er bestätigte, von Benjamins Tod erfahren zu haben. Vorsichtig strich Ben mit dem Finger über die Gummierung und der alte Klebstoff gab sofort nach.
Das Papier im Inneren war von hochwertiger Natur und mit einer anderen Handschrift beschrieben. Es kam von einer Anwaltskanzlei, die das Anwesen Sir Arthur Conan Doyles betreute. Ben las aufmerksam:
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben vielleicht davon gehört, dass Sir Arthur Conan Doyle verstorben ist. Wir sind damit betraut, seinen Nachlass zu regeln. Viele seiner Besitztümer werden für seine Nachkommen aufbewahrt, einige werden Museen gestiftet und einige werden an ihre ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben.
In letztere Kategorie fällt das ledergebundene Notizbuch des verstorbenen Benjamin Bartholomew Cartwright aus Ohio in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Notizbuch war für Sir Arthur Conan Doyle von enormem emotionalen Wert, und es war immer sein Wunsch, es seinem Besitzer, Herrn Cartwright, zurückzugeben. Doch wie Sie wissen, sollte es dazu nicht mehr kommen.
Leider ist es trotz unserer Bemühungen bisher nicht gelungen, besagtes Notizbuch aufzufinden. Sollten Hinweise auf seinen Aufenthaltsort bekannt werden, möge dieser Brief als Beweis dienen, dass es rechtmäßiger Besitz der Erben von Herrn Cartwright ist.
Читать дальше