In diesem Zusammenhang bildet meine Beziehung zur Jugendorganisation des NS-Staats, zur NSDAP und zu anderen Institutionen natürlich eine Achse des Identitätsproblems und der Dissidenz. Ich will aber eher chronologisch als systematisch vorgehen und weder auf Reflexionen noch auf Handlungsvollzüge späterer Jahre vorgreifen; daher ein frühes Beispiel für lebensgeschichtliche Dialektik, das von entglittenen Lernprozessen nicht frei ist. Man betritt das »gemeinsame Gelände« in kritischer Absicht, aber man verläuft sich in ihm.
Wie war denn meine Situation 1936? Im Internat kann die Kontrolle über die Schüler in mancher Hinsicht optimale Werte annehmen. So war es fast ausgeschlossen, das Haus auch außerhalb der an Wochentagen spärlich bemessenen Stadtfreizeit zu verlassen. Und fast unmöglich, den Unterricht in der Schule zu schwänzen. (Die Schule wurde von etwa 600 Jungen besucht, die meisten Externe.) Doch auch der Beitritt zur Jugendorganisation, Jungvolk oder HJ, war praktisch unvermeidbar. 7Es gab aber im Internat keine eigene Gruppe, home made – unsere Dienstorte und -stellen lagen in der Stadt.
Der Beitritt in meinem Falle: – der Wiedereintritt – war nicht nur praktisch unumgänglich, weil vom Internat und den Mitschülern kontrolliert. Ich empfand ihn durchaus auch als starke Versuchung. Und dies eben nicht aus den Gründen, von denen man heute häufig liest: weil der Vierzehnjährige auf die Sensationen des Lagerfeuers, der Lieder, der Nachtwachen, Kriegsspiele und Zeltplätze hofft, auf Unternehmungen, die, wie er weiß, den Alltag des Dienstes nicht ausmachen; oder weil ihn die Peergroup magisch anzieht; oder einfach weil die Teilnahme am Dienst sich in Schule und Internat von selbst versteht. Sondern weil er zu solchen Zwecken das Internat verlassen darf – nicht nur darf, sondern muß ; ein »muß«, vor dem sich der Zwang der Hausordnung als bloßes Papier erweist. Weil der Zwang des Dienstes den des Hausmeisters und der Hauslehrer bricht; weil zwischen dem »Dienst« und dem Zeitpunkt der Rückkehr ins Internat eine wie immer schmale Marge an Zeit entsteht, die sich der herrschaftlichen Kontrolle entzieht. Die Versuchung, sich in Jungvolk und HJ zu organisieren, lag also in der antiautoritären, ja rebellischen Chance, die sie dem Heranwachsenden bot. Ihre objektive Basis war die Rivalität der Institutionen Schule und HJ.
Die antibürgerliche Rebellion der HJ hatte im Jahre 1936 jedoch schon gar keine Substanz mehr, sie war nur noch pseudo . Ein Vierzehnjähriger bemerkt das nicht oder nicht deutlich: »pseudo« ist manches in ihm selbst. Identitätsfindungen, pubertäre Krisen enthalten immer ein Stück Spektakel, Effekte, denen die Ursache fehlt. So war es eben doch so, daß mich bei aller Abneigung ein Stück Faschismus auch anzog – aus welchen guten oder trüben Gründen auch immer.
Erst in den Jahren nach 1937 ging ich durch einen lebensgeschichtlichen Kristallisationsprozeß, der dieses Moment des Schwankens eines Tages tilgte – ein Prozeß, der mir selbst, und gewiß mit Recht, als glückliche Kontinuität des »ich, ich selbst …« erschien, weit weg vom NS-Staat, von Politik. Daß er mich noch vor Ende der Schulzeit in enge Beziehungen zu Antifaschisten, zu kommunistischen und liberalen Intellektuellen gebracht und sich wie mit einem Male politisiert hat, lag zwar in der Geschehenslogik dieser Kristallisation, aber keineswegs in jenen inneren Bildern, die ich mir damals von zukünftigen Ereignissen machte.
Es gab einen Wendepunkt, Ostern 1937, der die »alte« Periode – 1934 bis Ende 1936 – in einigen ihrer Widersprüche zusammengefaßt und zu neuen Entwicklungen übergeleitet hat: meine Konfirmation. Die »Einsegnung« war damals im evangelischen Sachsen durchaus üblich, einer der kirchlichen Riten, die der NS-Staat den Bürgern ließ. Ende 1936 gab es daher für meine Altersstufe den »Konfirmanden-Unterricht«, der von einem Geistlichen erteilt wurde. Als ich mich anmelden wollte, stellte sich heraus, daß ich gar nicht getauft war. Ich wußte das nicht oder hatte es längst vergessen.
Mein Vater war der Auffassung gewesen, sein Sohn solle eines Tages selbst entscheiden, wie er sich zu Gott und Kirche verhalten wolle, ohne ein im Zustand vollständiger Unmündigkeit verhängtes Präjudiz. (Dies war ein Akt der Emanzipation von seiner Seite: in der väterlichen Familie hatte es viele Generationen lang unter den Söhnen immer mindestens einen Pfarrer gegeben. Es existierte ein Erbanspruch auf evangelische Theologie; ich werde an anderer Stelle darüber berichten.)
Es ist nicht leicht, deutlich zu machen, wie sehr ich im Internat ein Außenseiter und manchmal ein outcast war, aber nur wenn man das weiß, wird der »Wendepunkt Konfirmation« verständlich. – Nach den anarchischen Perioden der letzten Dresdener Jahre konnte mein Verhältnis zu Regel und Ordnung des Internats nur die Form des erbitterten Kriegs annehmen, und der Wechsel vom gelernten Alleinsein, ja der Lust an der Einsamkeit, in eine große Schülergemeinschaft enger räumlicher Konzentration ließ mich reagieren wie ein in die Enge getriebenes Tier. (Die vorhin erörterten Beziehungen zum Mädchenwohnheim hatten auch die Funktion des buen retiro ; das hat allerdings meine Lage auf »meiner« Seite des großen Gebäudekomplexes nicht gemildert.) Und wenn sich meine Position schließlich verbesserte, so zunächst jedenfalls nicht infolge entwickelter sozialer Kontakte, sondern durch etwas, was man meine Unbeugsamkeit nennen mag, oder die Unfähigkeit, mich anzupassen – so oder so, es machte auf Schüler und Hauslehrer mit der Zeit Eindruck. Dann die Entfaltung einer gewissen polemischen Intelligenz, die auch Ältere lehrte, mir lieber aus dem Wege zu gehen; einige Jäger wurden scheu. Und erst als letztes eine Freundschaft mit Älteren, die Schutz gewährte (aber das kam erst später).
Gut, es stellte sich also heraus, daß ich nicht getauft war, daher auch nicht zum Konfirmanden-Unterricht zugelassen werden konnte. Es mag unlogisch erscheinen, daß ich diesen Ausschluß nicht hinnehmen wollte. Wäre es nicht ein »Abseits« gewesen, ein Moment, sich zu unterscheiden? Hätte es mir nicht sogar zusätzlichen Unterricht und die Teilnahme an Zeremonien erspart? Doch es war ein Moment der Differenz, das nicht eigentlich das »meine« war, kein Aspekt des »erbitterten Kriegs«, ein zufälliges, nicht angeeignetes, sinnarmes Moment der Nicht-Übereinstimmung. Nahmen denn alle evangelischen Schüler meines Alters an der Konfirmation teil? Nein, einige nicht. Aber warum? Entweder waren ihre Eltern Angehörige einer der vielen Sekten, die es in Sachsen immer gegeben hat: wunderliche Heilige, mit meist geduckten, stillen Kindern, mit denen ich nichts gemeinsam hatte, oder es waren die Söhne dezidierter Faschisten, deren aufgeblasene Kirchenfeindlichkeit nur die andere Seite ihrer »Weltanschauung« war. Da lag mir alles an Distanz und nichts an objektiver Nähe. Überdies hatte ich begonnen, Träumen und Stimmungen nachzugehen, die wir »religiöse« nennen. Am Religionsunterricht war ich sogar sehr interessiert, so selten er mir damals auch das gab, was ich erwartete.
Kurz: ich ließ mich in Dresden taufen und wurde Ostern 1937 in derselben Kirche konfirmiert. Nun war die Konfirmation aber, anders als die Taufprozedur, ein öffentlicher, kein privater Akt. Diese kirchliche Öffentlichkeit hat bekanntlich ihre spezifische Verkehrsform. Man erschien reinlich und gut gekleidet – es gab dafür ein besonderes Kleidungsstück, den »Konfirmanden-Anzug«. Ihn neu zu erwerben, lag außerhalb der finanziellen Möglichkeiten meines Vaters; er mußte irgendwo geliehen werden – aber wo? Dann gab es für die Feier eine peinliche Choreografie, die im Unterricht eingeübt worden war.
Und nur über der Taufe hatte ein schwacher Glanz des Magischen geschwebt, eine Erinnerung an jene unio mystica , von der ich später in den Predigten des Meister Eckehart las; die Konfirmation dagegen roch. Sie roch nach Unterwerfung, nach faktischer Normalität. Sie trieb den Geist aus wie ein unerwünschter preußischer Katechet.
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