»Ich war mit meinem Vater essen. Auf dem Nachhauseweg stand plötzlich ein …« Sie stockte. Was war auf der Straße gewesen?
Ihr war, als würden die Bilder in ihrem Kopf an dieser Stelle flimmern, wie Luft über einer heißen Straße. Ein Teil ihrer Erinnerung wusste, dass es sich um ein Reh gehandelt hatte. Das siebte Reh, ein rotbraunes Tier mit aufgerichteten Ohren und goldenen Augen. Ein anderer Teil war sich sicher, etwas anderes gesehen zu haben. Aber was? Allein schon die Vorstellung jagte ihr erneut Eisschauer über den Rücken. Was war hinter den flimmernden Gedanken? Stand da ein Mann? Was für ein Mann? Ihr Atem ging schneller, Übelkeit und Hitze stiegen in ihrem Rachen auf. Was war nur los mit ihr?
»Ein Reh!«, platzte sie heraus. »Ein Reh stand auf der Fahrbahn. Da hat mein Vater das Lenkrad verrissen und wir sind in den Graben gefahren.« Das hörte sich plausibel an.
»War es ein Reh oder ein Rehbock?«, fragte Polizeimeisterin Wagner.
»Ein Reh. Es hatte kein Geweih.«
»Und das ist auf die Straße gesprungen.«
»Es stand auf der Straße.« Ganz deutlich konnte sie sich das Reh ausmalen. Aber es war ein erfundenes Reh, eines, das wie ein Flicken einen Riss im Bild überdeckte.
»Es stand die ganze Zeit auf der Fahrbahn?«
»Ja, nein, was weiß ich … Ich habe nicht gesehen, wie es auf die Straße gesprungen ist. Es war einfach plötzlich da.«
»Waren noch andere Rehe in der Nähe zu sehen?«
»Ja, auf der linken Seite, also auf der Seite meines Vaters.«
»Kann es sein, dass Ihr Vater sich durch die Rehe neben der Fahrbahn ablenken ließ?«
»Keine Ahnung … wir sind gefahren, da war ein Reh und mein Vater hat zur Seite gelenkt. Das ging alles so schnell.«
»Befanden sich außer Ihnen und Ihrem Vater noch andere Personen im Fahrzeug?«
»Nein.«
»Waren noch andere Verkehrsteilnehmer an den Unfall beteiligt?«
Ein Mann. Irgendwie war da noch ein Mann. »Nur das Reh.«
»Sie müssten dann noch eine Wildunfallbescheinigung ausfüllen. Das ist wichtig für Ihre Versicherung«, sagte Polizeioberwachtmeister Ertl hilfsbereit. »Wir werden den zuständigen Jagdpächter informieren.«
»Warum?«
»Wir haben am Unfallort kein totes Tier entdeckt. Es könnte verletzt sein und sich verstecken.«
»Aber wir haben das blöde Vieh doch gar nicht berührt!«
Etwas in der Jackentasche der Polizistin piepste. Sie gab ihrem Kollegen mit einem Handzeichen zu verstehen, die Aufnahme zu pausieren, und holte dann ein Funkgerät hervor.
»Ja bitte?« Sie lauschte hinein, nickte und verzog dann das Gesicht. »Ja, verstanden. Wir kommen gleich.« Dann zu Ada gewandt. »Tut mir leid, wir müssen sofort los. Ein Notfall. Wir werden die Vernehmung zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Können Sie zu uns auf die Wache …« Sie ließ den Satz unbeendet, als ihr Blick auf Adas dick verbundenes Knie fiel. »Wissen Sie was? Wir kommen noch mal vorbei. Das ist, denke ich, einfacher. Am besten, Sie geben uns eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können.« Ada sprach die Nummer noch auf das Diktiergerät und schon waren die beiden verschwunden.
Als die Tür ins Schloss fiel, ließ Ada die Atemluft zischend entweichen. Seit der Uni-Abschlussprüfung hatte sie keine solche Erleichterung mehr verspürt, dabei hatte sie den Polizisten doch alles gesagt, was sie wusste, alles, was wirklich passiert war. Und trotzdem fühlte es sich irgendwie falsch an, unvollständig. Die Sekunden zwischen dem Augenblick, als noch alles normal gewesen war, und dem Aufprall dehnten sich ins Unendliche. Die Erinnerung an ihren eigenen Schreck jagte jedes Mal neue Schübe Adrenalin durch die Glieder und Schweiß auf ihre Haut. Es war unerträglich und gleichzeitig so intensiv und unmittelbar, dass sie es immer und immer wieder nachfühlen wollte. So wie man eine schmerzende Wunde immer wieder berührte, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Und dann ihre Gedanken. Dieser eine Gedanke, der in ihrem Kopf brannte wie ein unsichtbarer Glassplitter im Fleisch.
Sie hatte um ihr Leben gefleht. Nur um ihr eigenes, nicht um das ihres Vaters. Aber was waren schon Gedanken, die man in Todesangst hatte? Dafür brauchte sie sich nicht zu schämen. Doch sobald sie meinte, der Glassplitter wäre verschwunden und die Aufmerksamkeit auf etwas anders richtete, meldete er sich wieder scharf, und gnadenlos. Sie hatte nur an sich gedacht. Das Leben ihres Vaters war ihr in diesem einen Augenblick völlig gleichgültig gewesen. Es half nichts, es zu leugnen. Sie konnte ihre eigenen Gedanken nicht ungeschehen machen. Aber es sind nur Gedanken!
»Ich hab doch gar nichts gemacht«, sagte sie laut zu sich selbst, doch das Geräusch ihrer eigenen Stimme im leeren Raum verunsicherte sie mehr, als dass es sie beruhigte. »Papa ist gefahren. Er hat nicht aufgepasst. Er hat das Steuer herumgerissen. Er war wie immer nicht angeschnallt. Ich kann doch nichts dafür, dass mir kaum was passiert ist.«
Die Stille gab keine Antwort. Ada begann zu schluchzen, vergrub das Gesicht in den Händen. Eine Welle Schrecken, Angst und Trauer rollte über sie hinweg und sie ließ sich ganz davon erfassen, sich mittragen und durchdringen. Sie ließ alles aus sich herauslaufen, weinte so lange, bis keine Tränen mehr da waren und eine hohle Nüchternheit blieb, die erst nach und nach wieder mit Gefühlen aufgefüllt werden würde.
Schließlich kämpfte sie sich aus dem Bett, hangelte sich am Stuhl entlang zu den Krücken, um sich im Bad die Nase putzen. Im Spiegel sah sie ihr jämmerliches, verheultes Gesicht. Wie so oft schnitt sie sich selbst Grimassen. Es hatte keinen Zweck. Das leere Gefühl blieb.
Sie zog das Hemd aus, wusch sich Gesicht und Oberkörper mit kaltem Wasser ab und putzte sich die Zähne so lange, bis sie das Brennen der scharfen Zahnpasta nicht mehr aushielt. Dann gab es nichts mehr für sie zu tun und sie machte sich auf den Weg zu ihrem Vater.
Der Wartebereich der neurologischen Intensivstation befand sich im Zwischengeschoss direkt vor zwei großen Treppenaufgängen, über die kaum Besucher oder Patienten kamen, dafür eine Menge Ärzte und Ärztinnen, Klinikpersonal und Reinigungskräfte. Die meisten beachteten Ada nicht, doch wer zufällig ihren Blick streifte, runzelte kurz die Stirn oder hob verwundert die Augenbrauen, als fragte er sich, was eine Krankenschwester auf Krücken hier zu suchen hatte.
Ada klingelte an der zweiflügligen Milchglastür und wartete auf einen Summton. Doch stattdessen öffnete sich die Tür einen Spalt breit und eine dunkelhaarige Frau mit müden Augen lugte heraus.
»Ja bitte?«
»Ich bin Ada König und möchte zu meinem Vater, Frank König. Er wurde gestern hier eingeliefert. Wir hatten einen Autounfall.«
Der Blick der Krankenschwester glitt an Adas verheultem Gesicht hinab zur lila Uniform, ihren Krücken und wieder zurück zu den Augen. In einer Sekunde hatte sie Adas Situation erfasst und lächelte sie erschöpft, aber ehrlich an.
»Natürlich, Frau König. Kommen Sie rein.«
Sie hielt die Tür auf, damit Ada auf ihren Krücken hineinhumpeln konnte. Dann seufzte sie, als hätte sie gerade eine schwere Aufgabe hinter sich gebracht, und marschierte den Gang entlang. Ada versuchte, mit den forschen Schritten mitzuhalten, doch sie kam nur langsam hinterher. Ihr Knie brannte und ihre Hände verkrampften sich. Die empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger war von der ungewohnten Belastung durch die Krücken schon ganz wund. Endlich kam sie am Ende des Gangs an, an dem die Krankenschwester wartete und in die letzte offene Tür wies. Unsicher blieb Ada neben ihr stehen.
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