Ada hörte all dies und hörte es doch nicht. Es waren die immer gleichen Themen, die immer gleiche leichte Überheblichkeit gepaart mit wachsender Bitterkeit, die ihr Unbehagen bereitete. Früher hatte sie sich gerne mit ihm unterhalten, das heißt, sie hatte gerne seinen Vorträgen gelauscht, die sich über scheinbar jedes beliebige Thema erstrecken konnten. Im Studium hatte die Fassade erste Risse bekommen. Ada hatte ihren Vater immer wieder dabei ertappt, dass er Fehler machte. Er behauptete Dinge, von denen er offensichtlich keine Ahnung hatte, und drehte die Gewichtung der Fakten so, dass sie in seine Argumentation passte, oder er stellte die Datenbasis als Ganzes infrage. Wenn sie ihn auf die Fehler hinwies, wurde er entweder wütend oder herablassend. Niemals ließ er sich von seiner Meinung abbringen. Zu dieser Zeit hatte Ada viele Kämpfe mit ihm ausgefochten und keinen von ihnen gewonnen. Meist war sie irgendwann wutentbrannt nach Hause gefahren, hatte allein im Auto die Diskussion mit ihrem imaginären Gesprächspartner weitergeführt und ihm all die Argumente, Flüche und Beschimpfungen entgegengebrüllt, die ihr in der echten Auseinandersetzung nicht eingefallen oder nicht angemessen erschienen waren. Und meist hatte sie dann, kaum zu Hause, bei ihm angerufen und Frieden geschlossen, was sich wie eine weitere Niederlage angefühlt hatte.
Irgendwann hatte sie eingesehen, dass es keinen Sinn hatte. Sie konnte ihm bei jedem Satz widersprechen, oder es einfach sein lassen. Nichts würde sich für ihn ändern, sich selbst ersparte sie aber eine Menge Ärger. Der Preis war ihr Respekt für ihn. Sie konnte seinen ewigen Redeschwall nur ertragen, wenn sie ihn nicht mehr ernst nahm. Sie wusste nicht, ob er sich dessen bewusst war. Zumindest schien es ihn nicht zu stören. Also hielt sie sich raus. Nur manchmal versagte die Strategie und sie ließ sich doch wieder in eine dieser sinnlosen Diskussionen verwickeln.
Als sie ihr Schnitzel, die Pommes und den kleinen Beilagensalat bis zum letzten Tropfen Soße verspeist hatte, hatte er gerade mal das zweite Stück Fleisch auf der Gabel, die jedoch verwaist auf dem Teller lag, weil er beide Hände zum Argumentieren benötigte.
»Und dann verkaufen die im Rewe die Milch für unter einem Euro, stell dir das vor!«
»Dann kauf doch woanders«, erwiderte Ada schwach. Sie freute sich schon darauf, auf dem Sofa im Wohnzimmer ein Nickerchen zu machen.
»Nein, nein, ich bin ja nur der Kunde. Selbstverständlich kaufe ich da, wo es am billigsten ist. Das machen alle anderen ja auch so. Warum sollte ich für das gleiche Produkt mehr Geld zahlen?«
»Dann kauf bio. Dann hast du ein anderes Produkt.«
»Ach, Ada. Lass dich doch nicht für dumm verkaufen. Bio ist doch alles Betrug. Der Rewe soll die Milch zu anständigen Preisen von den Bauern kaufen. Sonst verlieren die ihre Existenzgrundlage. Und dann können sie den Preis ja teurer machen. Und dann kaufen es die Leute auch, weil sie keine Alternative haben.«
»Wenn du das Problem erkannt hast, dann handle doch entsprechend und mach da nicht mit. Es gibt auch Läden, in denen die Milch teurer ist.«
»Ja, aber das stecken ja die Verkäufer ein, diese Verbrecher. Nein, ich als Verbraucher habe von allen am wenigsten Geld, ich kaufe da, wo es am billigsten ist.«
Ada presste die Lippen aufeinander. Alles, was sie jetzt sagen wollte, würde nur zu Streit führen. Um sich abzulenken, ging sie in Gedanken die Einkaufsliste für ihre Wohnung durch. Sie brauchte noch Brot, Glasreiniger, Marmelade und … Milch!
»Warum sagst du eigentlich nie was?«
Die darauffolgende Stille riss sie aus ihren Gedanken.
»Was?«
»Du bist immer so stumm, hast du denn gar keine Meinung zu dem Ganzen?«
»Doch, aber du willst sie ja nicht hören.«
»Stimmt nicht. Ich rede ja nur, weil du nichts sagst. So ist das mit allen. Alle schweigen immer. Niemand hat was zu sagen, niemand hat eine Meinung. Und am Ende bin immer ich der, der alle unterhalten muss.«
»Papa, du musst niemanden unterhalten. Es ist auch überhaupt nicht schlimm, wenn eine Minute mal keiner von uns was sagt.«
»Aber dafür sind wir doch hier, um zu reden.«
»Ja, wenn wir uns was zu sagen haben, nicht, um soziale Geräusche zu machen.« Innerlich fluchte Ada. Sie hatte es schon wieder getan. Sie hatte die Gleichgültigkeit aufgegeben und ihm widersprochen. Jetzt würde alles noch länger dauern.
»Warum bist du auf einmal so giftig? Wir gehen zusammen essen, haben eine gute Zeit und dann kommt aus dem Nichts so eine saublöde Bemerkung. Das machen Frauen immer. Aus irgendeinem Grund müsst ihr dauernd sticheln. Immer das Haar in der Suppe finden.«
»Papa, ich stichel gar nicht. Im Gegenteil. Ich hatte echt eine mega anstrengende Woche und hätte jetzt am liebsten einfach nur meine Ruhe. Du warst derjenige, der unbedingt irgendwas Wichtiges mit mir besprechen wollte, und hier bin ich. Aber anstatt zum Punkt zu kommen, redest du nur wieder von den Nachbarn, von den Politikern und dem blöden Rewe. Das nervt.«
»Gut. Dann fahren wir jetzt nach Hause. Ich will das nicht in der Öffentlichkeit thematisieren.«
»Aber ich dachte, deswegen wären wir hier.«
»Nein, wir sind hier, um schön essen zu gehen, aber mit dir kann ich das mittlerweile ja wohl vergessen. Zahlen, bitte!«
Er konnte schlimmer schmollen als ein vierjähriges Kind. Und er war nachtragend. Wer es sich einmal so richtig mit ihm verscherzt hatte, konnte in diesem Leben nicht auf Rehabilitierung hoffen. Es gab in Peining einen Bauern, einen Friseur und die Mesnerin Kreutner, die ein solches Schicksal ereilt hatte. Mit ihnen hatte der König gebrochen und sie konnten von Glück sagen, dass er nicht die Macht besaß, sie hinrichten zu lassen. Beim Düngen seiner Wiese hatte der Bauer einmal versehentlich den Apfelbaum des Königs mit Odel bespritzt. Das war nicht das Problem gewesen, sondern seine Weigerung, für die Entschuldigung vom Traktor abzusteigen. Das hatte Adas Vater so rasend gemacht, dass er aus dem Männergesangsverein ausgetreten war, dessen Chorleiter der Bauer gewesen war. Der Friseur hatte den König stets zu unsanft gekämmt, was seine sensiblen Haarwurzeln nur schlecht vertragen hatten. Einmal im Monat war Adas Vater zum Haar- und Bartschneiden zu ihm gegangen und jedes Mal hatte ihn im Anschluss ein Haarwurzelkatarrh geplagt. Als er den Friseur endlich auf dessen Unzulänglichkeit hingewiesen hatte, hatte dieser das Ganze mit einem Schulterzucken abgetan und dem König eine unmännliche Überempfindlichkeit attestiert. Adas Vater war mit frisch eingeschäumtem Haar aufgestanden und hatte den Friseurladen seither nie wieder betreten. Er ließ sich die Haare nun bei einem Spezialisten in München schneiden, der zwar ein Vermögen verlangte, dafür aber die Haare mit einer Vorsicht kämmte, als hinge sein Leben davon ab. Was die Dame von der Kirche verbrochen hatte, war aus Adas Vater nicht herauszukriegen. Doch wenn er sie im Dorf sah, wechselte er sofort die Straßenseite.
Sie fuhren schweigend zurück. Ada kannte den Weg auswendig, hätte ihn blind selbst fahren können und doch starrte sie mit einer Inbrunst nach draußen, als glühe hinter den Wipfeln der prächtigste Sonnenuntergang und nicht nur eine nullachtfünfzehn Nachmittagssonne mit versprengten Wattewölkchen. Jetzt hatte sie ihre Ruhe, doch es war eine bedrückende Stille. Ihr Vater war wütend, das spürte sie, und in ihr wuchs immer stärker das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Einfach entschuldigen, da ist doch nichts dabei. Dann ist alles wieder gut, dachte die brave Tochter in ihr. Aber nein, sie war es satt, um der Harmonie willen einlenken zu müssen. Sie war es so satt.
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