»Wusste ich es doch. Mein Schlüssel ist immer in der Handtasche«, murmelte sie zufrieden und suchte auf einem Haufen abgelegter Kleidungsstücke ihre Jacke aus schwarzem Lederimitat. Der Stapel kippte vom Stuhl und die Kleidungsstücke verteilten sich auf dem Teppich.
Gereizt bemalte sie sich mit knallrotem Lippenstift die Lippen, presste diese anschließend hart aufeinander, schmatzte laut in den Schlafzimmerspiegel und biss auf ein Taschentuch, was die überschüssige Farbe aufsaugen sollte. Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild.
Sie zog die Haustür ins Schloss und atmete die würzige Gartenluft ein. Energisch trat sie den Ständer ihres Fahrrades beiseite. Sie würde sich heute Abend gewiss nicht selbst die Laune verderben, indem sie weiter über Konrad grübelte. Er würde schon sehen, wen er sitzen gelassen hatte.
Als sie, erhitzt von ihrer Wut auf Konrad und der körperlichen Betätigung an frischer Luft, am Fischhus ankam, hatten die beiden anderen Frauen schon die Köpfe über ein Blatt Karo-Papier zusammengesteckt. Sie erkannte Inses säuberliche Handschrift. »1 TS Gemüsebrühe, 3 EL Ei-Ersatz«, las sie über die Schulter der Freundin. »Was kochen wir eigentlich?«, erkundigte sie sich.
Wencke sah sie groß an: »Na, vegane Fischfrikadellen. Schon vergessen?« Sie hatte es wohl eher verdrängt. Im Grunde genommen hasste sie Kochen. Sie bereitete nie etwas Komplizierteres als Nudeln zu. »Was ist das?«, fragte sie und drehte ratlos eine Dose in den Händen.
»Jackfruit in Salzlake. Das Zeug hat Inse aus dem Asiamarkt in Kiel mitgebracht – für die Frikadellen. Eignet sich bestens, weil es so schön faserig ist.« Sie tat interessiert: »Aha.« Dann betrachtete sie die grünen Platten, die Inse aus einer Plastikfolie holte. »Sind das Algen?«, fragte sie. Inse war so mit der Folie beschäftigt, dass sie nicht aufsah. »Ja, Nori-Algen. Damit kann man auch Sushi machen.«
Sie spürte eine leichte Eifersucht aufkommen. Die anderen beiden waren schon so lange befreundet. »Und was soll ich machen?«, fragte sie. Wencke warf ihr eine Zwiebel zu: »Hacken.« Sie zeigte auf ein Glas. »Und danach kannst du schon mal die Brötchenhälften mit der veganen Majo einstreichen. Ich bin irre gespannt, was unsere Testesser gleich sagen!«
Testesser? Davon hörte sie zum ersten Mal. »Kommt noch jemand ins Fischhus?«, fragte sie irritiert. Inse lachte. »Ja, Oschi und Jan. Sie sollen die neuen Fischfrikadellen aus ›Kabeljau‹ probieren, die angeblich nach einem Rezept meiner Großmutter hergestellt sind.« Inse kicherte nun ebenfalls albern und meinte: »Wetten, dass die beiden Feinschmecker nicht merken, dass sie vegan essen?«
Tilda pellte ein wenig Haut von der Zwiebel. Die Ehemänner würden also demnächst dazustoßen. Dann war sie wieder das fünfte Rad am Wagen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist also euer Plan. Ihr wollt die Stammgäste betuppern!«
Wencke lachte: »Aber das geschieht nur zu ihrem Besten – und dem des Kabeljaus.«
Jetzt bogen sich auch Tildas Mundecken willkürlich nach oben. Wencke war reichlich ausgebufft, dachte sie ein wenig neidisch. Wenn diese beiden Nordlichter nichts merkten, würden auch die anderen Stammgäste keinen Unterschied zu echtem Fisch schmecken.
Eine Zeitlang arbeiteten sie schweigend vor sich hin. Inse hatte begonnen, die Nori-Algen-Matte zu zerteilen, ihr tränten von der Zwiebel die Augen, und Wencke gab die Jackfruitstücke in eine Pfanne. Bald stieg heißer Dampf in der Bretterbude auf, als die Tropenfrucht in einer Gemüsebrühe köchelte.
Nachdem die Frucht in ihre Fasern zerfallen und abgekühlt war, verknetete sie die Jackfruit mit der Zwiebel und den Nori-Algen und ein paar weiteren Zutaten. Die Männer kamen gerade rechtzeitig, um noch zu sehen, wie Inse die »Fischbrötchen« mit Tomatenscheibchen und einigen Salatblättern dekorierte. »Für mich ohne das ganze grüne Gedöns«, bellte Inses Mann, was bei den Frauen für einen neuerlichen Heiterkeitsausbruch sorgte.
»Was denn?«, meinte Jan. »Ihr drei habt doch wieder was ausgeheckt.« Er biss in sein Brötchen und verzog den Mund. »Ne, nech? Wencke? Das ist nicht dein Ernst, oder?« Oke hatte im selben Moment von seinem Brötchen abgebissen, konnte sich aber offenbar nicht überwinden hinunterzuschlucken. Mit vollem Mund bestätigte er: »Algenknete!«
Ihre Taschenlampen blitzten zwischen den dunklen, hohen Fichten auf. Als sein Kumpel Kay das Gartentor zu dem einsam gelegenen Holzhaus am Selenter See aufstieß, gab die Angel einen quietschenden Ton von sich. Nikita zuckte erschrocken zusammen. Doch im Haus blieb alles ruhig. JP schlug sich genervt gegen die Stirn. Als wenn sie nicht selbst wüssten, dass sie still sein sollten, dachte Nikita, sagte aber nichts. Auch nicht so was wie »Chill mal«. Bei JP musste man immer aufpassen. Er wollte keinen Beef mit dem Typen.
»Wir müssen nach hinten, ums Haus rum«, zischte JP. Der Name wurde englisch ausgesprochen – Jay Pi. Dabei hieß JP eigentlich Jan-Philipp. JP konnte Thai-Boxen und war mit Vorsicht zu genießen.
Nikita wusste nicht, was in dieser Nacht am Haus des Försters passieren sollte, er hatte sich nicht getraut zu fragen. Auf jeden Fall hatte er kein gutes Gefühl bei der Sache.
Inständig hoffte er, dass Kurt Tietjen keinen Bewegungsmelder installiert hatte. »Wenn der Obermacker mich sieht, erkennt der mich«, flüsterte er Kay zu. Vor nicht langer Zeit hatte Nikita dem Förster zusammen mit seinem Vater einen Besuch abgestattet. Nachdem sie in Opas Haus gezogen waren, mussten sie sich auch um Opas Bienen kümmern. Frerk hatte voll auf unsicher gemacht. Er wollte unbedingt ein paar Tipps von einem »richtigen« Imker. Unnötig.
Opa hatte ihm alles beigebracht, was es über Bienen zu wissen gab. In den Ferien hatte Nikita ihn gelöchert. Er wusste nicht nur, was dieser Tietjen ihnen sagte, nämlich, dass Frerk Mitte April die Honigräume aufsetzen sollte. Sicher wusste er tausendmal mehr über Bienen als dieser Förster. Zum Beispiel, dass Bienen sich nach getaner Arbeit gern zusammenkuschelten. Nikita wusste mehr über Bienen, als sein Vater sich vorstellen konnte.
Dieser Tietjen war außerdem tierisch unfreundlich gewesen, meinte, dass seine Tipps nicht kostenlos zu haben seien. Zum Schluss hatte er ihnen ein Glas Waldhonig für sechs Euro aufgenötigt, obwohl sie noch Honig von Opa im Keller hatten.
Im Mondlicht konnte man die Umrisse der Bienenkästen nur erahnen. Sie standen in einer langen Reihe, ganz in der Nähe eines Gartenschuppens. Weil er sich nicht konzentriert hatte, rempelte er versehentlich Kay an, der vor ihm ging. »Aua«, fluchte sein Kumpel leise. »Tritt mir nicht in die Hacken, du Pfosten!«
Gerade als er den Mund öffnete, um Kay ein »selber Pfosten« entgegenzuschleudern, hielt ihm JP einen Böller aus seinem versifften Rucksack hin: »Für dich.«
Nikitas Nackenhaare stellten sich unversehens auf. »Für mich? Wieso? Was – was – soll ich damit?«
JP zeigte auf die Bienenkästen. »Du bist so lost! Los! Deckel auf, Böller rein!«
Nikita spürte plötzlich eine Kälte in seinem Magen, die sich wie ein Virus immer weiter ausbreitete.
Er wollte den Bienen nichts tun. In diesen Kästen, die man Beuten nannte, lebten Wesen, die sich umeinander kümmerten. Im Sommer fächelten sich die Bienen kühle Luft zu, im Winter wärmten sie sich gegenseitig. Die Bereitschaft, alles für die Familie zu geben, unterschied Bienen deutlich von Menschen, besonders von seiner Mutter. Mona war abgehauen. Wahrscheinlich wusste sie nicht mal, dass Frerk und er nicht mehr in Berlin wohnten.
Mit Schrecken erkannte er, dass JP in seinem Rucksack ein ganzes Arsenal an A- und D-Böllern mitgeschleppt hatte. Er erhaschte einen Blick auf Kays pickliges Gesicht: In dessen Augen erkannte er ebenfalls Panik. Keiner von ihnen beiden wollte Tiere töten. Fühlten Bienen Schmerzen?
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