›Wie sind wir überhaupt darauf gekommen?‹
›Ich habe selbstständig nachgedacht.‹
›Um so besser.‹
›Ich habe selbstständig nachgedacht, und ich möchte Will nach der Schule besuchen gehen.‹
›Diese Diskussion hast du schon verloren.‹
›Ich muss auch mal mit anderen Menschen zusammen sein als nur mit dir.‹
›Was ist mit Suzie?‹
›Sie ist wie du. Will ist nicht wie du.‹
›Nein, er ist ein Lügner und er arbeitet nicht, und …‹
›Er hat mir diese Turnschuhe gekauft.‹
›Ja. Er ist ein reicher Lügner, der nicht arbeitet.‹
›Er kennt sich aus mit der Schule und so. Er weiß alles Mögliche.‹
›Er weiß alles Mögliche! Marcus, der weiß nicht mal, dass er geboren ist!‹
›Siehst du, was ich meine?‹ Er wurde immer frustrierter. ›Ich denke selbstständig nach, und du … es funktioniert einfach nicht. Du gewinnst sowieso.‹
›Weil du keine überzeugenden Argumente hast. Es genügt nicht, selbstständig nachzudenken. Du musst es mir auch beweisen.‹
›Wie beweise ich es dir?‹
›Nenn mir einen guten Grund.‹
Er konnte ihr einen guten Grund nennen. Es wäre nicht der wahre Grund, und er sagte es nicht gerne und er war ziemlich sicher, dass sie anfangen würde zu weinen. Aber es war ein guter Grund, ein Grund, der sie zum Schweigen bringen würde, und wenn das nötig war, um in einer Diskussion zu überzeugen, würde er ihn vorbringen.
›Weil ich einen Vater brauche.‹
Er brachte sie zum Schweigen, und sie fing an zu weinen. Es erfüllte seinen Zweck.« (Hornby 2000, S. 144 f.)
Als zentrales Moment von Fionas »Plan« enthüllt sich hier ihr Wunsch, Marcus möge selbstständig denken (lernen). Deshalb, so scheint es, befiehlt sie ihm nicht einfach, was er tun soll, sondern besteht darauf, mit ihm zu diskutieren und dabei an seine Einsicht zu appellieren. Andererseits überlässt sie ihm auch nicht einfach die Entscheidung darüber, was er tun möchte, sondern zwingt ihn dazu, überzeugende Argumente für seine Wünsche vorzubringen. Aus Kants Perspektive könnte man sagen, dieser Zwang ziele darauf, Marcus zum selbstständigen Gebrauch seines Verstandes anzuhalten. Insofern ließe sich Fionas Zwang damit rechtfertigen, dass er im Interesse von Marcus’ künftiger Freiheit notwendig sei. Denn er dient dazu, Marcus in den Stand zu versetzen, künftig unabhängig von anderen Entscheidungen treffen zu können und nach »Maximen« zu handeln, von deren Richtigkeit er selber überzeugt ist.
Andererseits hat Marcus aber zu Recht den Eindruck, dass diese Rechnung nicht ganz aufgeht. Denn in der Diskussion mit seiner Mutter ist es offenbar sie, die die Macht besitzt, darüber zu entscheiden, ob ein Argument »überzeugend« ist oder nicht. Besonders offensichtlich ist das Ungleichgewicht zwischen Mutter und Sohn in Fionas Satz »Diese Diskussion hast du schon verloren«. Denn wie kann sie dies wissen, da sie Marcus’ Argumente doch noch gar nicht kennt? Insofern möchte man Marcus Einschätzung durchaus zustimmen, wenn er sagt: »[E]s funktioniert einfach nicht. Du gewinnst sowieso.« Dabei scheint Marcus zu spüren, dass es in dieser Diskussion entgegen der Darstellung seiner Mutter nicht nur auf überzeugende Argumente ankommt, sondern dass dabei noch etwas anderes im Spiel ist (wovon auch bei Kant keine Rede war), nämlich Macht – und zwar in einem doppelten Sinne. Macht spielt in diesem Streitgespräch zum einen eine Rolle als Herrschaft über die Spielregeln der Auseinandersetzung (welches Argument kann als überzeugend gelten?), zum andern aber auch im Sinne der Macht über die Gefühle des anderen.
Während die Herrschaft über die Spielregeln der Auseinandersetzung ganz in den Händen der Mutter zu liegen scheint, verhält es sich bei der Macht über die Gefühle anders. Zwar verrät Marcus’ innerer Stoßseufzer »Enttäuscht. Enttäuschung. So machte sie es. So machte sie viele Dinge« aus der zuvor zitierten Passage, dass er spürt, dass seine Mutter eine besondere Art von Macht über ihn hat, wenn sie sagt, sie könne ihn zwar nicht hindern, zu McDonald’s zu gehen, aber sie wäre enttäuscht, wenn er es täte (im Kern lässt sich dies nämlich als Drohung mit Liebesentzug deuten). Doch am Ende der Passage zeigt sich, dass umgekehrt auch Marcus eine Art von Macht über seine Mutter besitzt. Als er nämlich von Fiona aufgefordert wird, einen guten Grund dafür zu nennen, dass er weiterhin Will besuchen möchte, greift er auf ein Argument zurück, von dem er weiß, dass es seinen Zweck erfüllen wird, obwohl es gar nicht der »wahre Grund« ist. Das Argument »weil ich einen Vater brauche« erfüllt seinen Zweck insofern, als es Fiona nicht nur zum Schweigen, sondern auch zum Weinen bringt und Marcus damit einen Punktsieg in der Auseinandersetzung mit seiner Mutter verschafft.
Die Betrachtung der Passage aus About a boy zeigt, dass Kants Formulierung des Problems einer Verbindung von Freiheit und Zwang in der Erziehung auch heute durchaus noch geeignet ist, pädagogische Handlungssituationen theoretisch zu durchdringen. So kann man in der skizzierten Passage, wenn man sie aus der Perspektive Kants liest, durchaus Gründe für die Auffassung finden, dass Fionas Erziehung weniger unzulänglich ist, als es in den Kapiteln, die aus der Perspektive Wills geschrieben sind, gelegentlich erscheint. Denn immerhin gelingt es ihr, Marcus zum selbstständigen Denken zu veranlassen – was man von Wills »zivilisierender« Einführung seines Schützling in die Jugendkultur der 1990er Jahre nicht unbedingt sagen kann (so notwendig diese auch sein mag).
Auf der anderen Seite zeigte sich aber auch, dass Kants Erziehungstheorie Grenzen oder blinde Flecken hat, wenn es um die Analyse heutiger pädagogischer Problemsituationen geht. Die Analyse des Streitgesprächs zwischen Marcus und Fiona macht so darauf aufmerksam, dass eine Theorie der Erziehung über Kant hinaus auch die Frage der Machtverteilung zwischen Erziehern und Zöglingen thematisieren muss sowie die Rolle, die wechselseitige Gefühle in diesem Verhältnis spielen können.
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