›Zutritt nach Anmeldung‹, war auf einem Schild zu lesen. Daneben ein Klingelknopf. Doch die Anmeldung war verwaist. Während des Schichtwechsels und so spät am Abend war die Chance hoch, dass der Schmetterling ungesehen weiterfliegen konnte.
Wenn er es schaffen würde, auch diesen Gang zu durchqueren, kam er ins hintere Treppenhaus. Er wollte zu einem der Personalausgänge, der von dort aus zu erreichen war. Diese Tür ließ sich ausschließlich von innen öffnen. An der Stelle saß kein Pförtner.
Der Schmetterling versuchte sich daran zu erinnern, wer ihm von all den Dingen und Namen, die er wusste, erzählt hatte. Wer hatte ihm das Krankenhaus gezeigt? Ein Bild tauchte auf. Eine Gestalt. Liebe. Schmerz. Hass.
Stopp. Zuviel.
Nicht mehr denken. Nicht mehr fühlen. In seinem Hirn löschte er das Leben vor der Transformation. Im Grunde war es nicht wichtig. Nicht im Moment. Das Gebäude ungesehen zu verlassen, war sein Ziel.
Doch noch bevor er ans Ende des Flurs kam, gab es eine Abfolge von unerwarteten Ereignissen.
Zuerst war ein markerschütternder Schrei von oben zu hören.
Der Schrei, nein, das Schreien, denn bei einem blieb es nicht, würde ziemlich rasch die Menschen aus den Stationen und Zimmern locken. Zumindest die, die fähig waren, ihre Betten zu verlassen. Samt denen, die sie betreuten.
Dass die tote Frau so schnell entdeckt worden war, erschreckte den Schmetterling nun doch. Panik durchflutete ihn.
Seine Flügel schienen ihm den Dienst zu versagen, schwer wie Blei zu werden. Seiner Fortbewegung beraubt, erstarrte der Schmetterling und hielt sich an einer der Türklinken fest, um nicht zu Boden zu gehen.
Genau diese Tür wurde aufgerissen und der Schmetterling fiel in die Arme eines Mannes. Ein Zusammenstoß ihrer Köpfe folgte.
»Oh Gott, das tut mir leid.« Der Fremde räusperte sich. »Haben Sie sich verletzt?«
Der Schmetterling wollte antworten, doch sein Rüssel war nicht dafür gemacht. Er bewegte also seinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück.
»Hat da jemand geschrien?«
Der Mann sah sich um.
Das Insekt bog seinen Oberkörper zurück, um sich aus der unfreiwilligen Umklammerung zu befreien. Jede Sekunde konnte der Unbekannte die Transformation erkennen. Und dann? Würde er ebenfalls zu schreien beginnen?
»Ist mit Ihnen wirklich alles okay?« Noch eine Nachfrage des Mannes.
Bevor der Schmetterling mit seinem Kopf von oben nach unten und wieder zurück wippen konnte, folgten nächste Rufe von oben. Diesmal konnte man »Hilfe, Hilfe« verstehen.
Zwei Ärzte kamen den Gang entlanggelaufen, blass sahen sie aus, als wären sie eben aus dem Schlaf gerissen worden. Sie hasteten im Gleichschritt Richtung Treppenhaus. Weitere Türen öffneten sich. Der Fremde ließ los und schloss sich den Laufenden an, ohne zurückzusehen.
Der Schmetterling huschte mit letzter Kraft in das Krankenzimmer hinein. Kaum drinnen gab sein Körper nach. Er lehnte sich an die Wand, rutschte nach unten, kam in eine sitzende Position. Draußen am Gang war jetzt Stimmengewirr zu hören und jemand brüllte um Ruhe.
Hier drinnen waren die Geräusche gedämpft.
Es herrschte keine Stille, die gab es in einem Intensivzimmer nie. Ein stetiger Piepton und ein regelmäßiges Klacken waren zu hören. Leise Atemgeräusche. Der Schmetterling schloss sich dem fremden Atemrhythmus an, atmete ebenfalls ein und wieder aus. Immer weiter ein und aus, um die Schwere abzuschütteln, um die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen.
Auf den Schwingen der Nacht gilt es zu entfliehen, dachte er.
Ein Anflug von Humor gab ihm die nötige Energie, sich vom Boden hochzustemmen. Er würde noch ein paar Minuten in diesem Zimmer ausharren, bis sich die Menschen draußen alle zum Schauplatz des Verbrechens aufgemacht hatten, und dann verschwinden.
Eine Frage stellte sich. Wie gefährlich konnte eine mögliche Entdeckung durch den Fremden, der den Schmetterling aufgefangen hatte, werden? Überhaupt keine Gefahr. Von ihm war nichts zu befürchten. Er war durch die Schreie in seiner Aufmerksamkeit völlig abgelenkt gewesen.
Der Schmetterling trippelte näher ans Krankenbett.
Jetzt konnte er die Frau darin sehen.
Die Haut war bleich. Den Kopf, der auf dem Kissen ruhte, umspielten dunkle Locken. Die Schläuche, die von Nase und Mund zu den lebenserhaltenden Geräten führten, wirkten wie Schlangen, die sich zu dem schmalen Körper unter dem Laken geschlichen hatten.
Der Anblick berührte den Schmetterling. Anders als für die Tote vorhin, empfand er Mitleid.
Eine der dunklen Locken war über die Stirn und Wange der Patientin gerutscht und der Schmetterling beugte sich vor. Er streckte sein Insektengliedmaß aus, um die Haare zurückzuschieben und berührte die Haut der Schlafenden. Weich. Kühl und zart. Unter den geschlossenen Lidern rollten die Augäpfel.
Was für Träume sie wohl heimsuchten? Welche Gestalt sie im körperlosen Nichts schwebend annehmen mochte?
Der Schmetterling schloss nun ebenfalls die Augen. Blieb über der Frau gebeugt stehen, verharrte eine Weile wie in Trance. Als wäre mit der Berührung ein Stichwort gefallen, setzte die Rückverwandlung ein, die ohne weitere Komplikationen ablief. Er hatte sich entschlossen, in Menschengestalt weiter unterwegs zu sein.
Einige Minuten später verließ eine Person das Zimmer, ging den Flur entlang bis zum Notausgang.
Erneut unbeobachtet.
5
Harro schreckte hoch.
Er war eingedöst, während er Willas Hand gehalten hatte. Jetzt hatten ihn Geräusche von draußen geweckt. Nicht die üblichen Schritte oder das Geschirrgeklapper. So spät am Abend gab es keine Essenausgabe mehr und nur wenige Leute waren in den Gängen unterwegs. Die Besuchszeit war ohnehin vorbei, er hätte längst das Zimmer verlassen müssen. Er ging davon aus, dass die Nachtschwester ihn mit hängendem Kinn und geschlossenen Augen sitzen gesehen und ihn aus Mitleid nicht verscheucht hatte.
Langsam nahm sein Verstand seine Funktionen wieder auf.
Tine hatte sich übers Handy gemeldet, der junge Pfleger hatte sie tatsächlich angesprochen. Harro hatte beide zum Essen fortgeschickt und versprochen, nachzukommen. Eine halbe Stunde hatte er sich zusätzlich herausnehmen wollen, doch in der Zeit musste er eingeschlafen sein.
Er ordnete das Geräusch ein.
Es war ein Schrei gewesen.
Er warf einen schnellen Blick zur schlafenden Willa. Bestand Gefahr für sie? Konnte es sein, dass ein Feuer ausgebrochen war? Hatte es einen Alarm gegeben?
Ein nächster langgezogener Schrei erklang von draußen. Weiter entfernt. Diesmal gab es keinen Zweifel. Etwas war geschehen oder geschah immer noch.
Harro stolperte hastig zur Tür, riss sie auf und wollte hinausstürzen. Im selben Moment spürte er, wie jemand gegen ihn stieß. Kopf gegen Kopf. Automatisch fing er den Körper vor ihm auf.
»Oh Gott, das tut mir leid.« Er räusperte sich. »Haben Sie sich verletzt?«
Die Person in seinen Armen schüttelte den Kopf. Beugte sich zurück.
»Hat da jemand geschrien?« Harro sah kurz hoch, wieder zurück. »Ist mit Ihnen wirklich alles okay?«
Diesmal ein Nicken und der Versuch, sich aus Harros unfreiwilliger Umarmung zu befreien.
Eine neue Abfolge von Schreien setzte ein, die signalisierten, dass hier irgendwo nichts okay war. Harro meinte »Hilfe, Hilfe« zu verstehen. Zwei Ärzte kamen gelaufen, Harro kannte einen vom Sehen, aber keinen von beiden hatte er je bei Willa angetroffen.
Immer mehr Türen öffneten sich.
Ohne sich weiter um die Person zu kümmern, schloss sich Harro ihnen an.
Sie liefen den Gang entlang, durch die Flügeltür, die Treppen hoch. Einen Halbstock höher kam ihnen eine Krankenschwester entgegen. Sie stoppte keuchend.
»Frieda hat Karin gefunden. Lutz ist auch da. Und Mike. Schnell, kommen Sie. Karin, es geht um Karin. Oh Gott, oh Gott.«
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