»Es geht um den Mord an einer unschuldigen Frau, die noch dazu in einem Beruf gearbeitet hat, der viel Einsatz bei wenig Gehalt verlangt.«
»Marielle, das weiß ich. Wir brauchen aber Verdächtige. Noch haben wir keinen einzigen. Leider.«
»Von den Leuten aus ihrem näheren Arbeitsumfeld könnten wir trotzdem Abmessungen vergleichen.«
»Vielleicht ist das durchzubekommen. Aber nicht von jedem, der in dem riesigen Krankenhauskomplex arbeitet. Schon gar nicht von jedem Patienten oder Angehörigen, der dort einen Besuch abgestattet hat.«
Zauber hustete. »Nadel im Heuhaufen, Leute. Der Täter kann hinein und wieder hinausspaziert sein.«
»Am späten Abend müsste ein Besucher doch auffallen.« Marielle wollte nicht aufgeben.
»Die bisherigen Aussagen haben nichts ergeben.«
»Das gesamte private Umfeld vom Karin Lieberstätt haben wir in unsere DNA-Vergleiche bisher noch nicht einbezogen. Was ist mit ihrem Mann, einem Freund, einem Bekannten, der im Krankenhaus auftaucht, dort seine Tat begeht, um den Verdacht von sich abzulenken.«
»Auch die Überwachungskameras im Wartebereich und der Eingangshalle haben nichts gebracht.« Zauber begann erneut zu husten.
Marielle kam zu ihrem Kollegen und klopfte ihm auf die Schulter. »Da hast du recht. Ich bin durch meine Vernehmungsliste durch. Nicht jeder hat ein wasserdichtes Alibi, was spät abends nachvollziehbar ist. Aber es hat sich leider keine einzige Unstimmigkeit ergeben. Was ist bei dir herausgekommen?«
»Bei mir ebenso – Nichts.«
»Und das Motiv?«, fragte Harro.
»Dabei tappen wir ebenfalls noch im Dunklen.« Marielle seufzte. »Karin Lieberstätt war beliebt. Im Krankenhaus, in ihrem Privatleben. Ein angenehmer, freundlicher Mensch. Sie scheint keine Feinde gehabt zu haben.«
»Einen anscheinend doch.«
»Du sagst es. Wie immer, wenn wir noch am Anfang stehen und uns die Spuren keine eindeutigen Hinweise liefern, müssen wir uns vortasten.«
Kraus’ Handy klingelte. Er holte es aus seiner Jeans.
»Ja? – Am Apparat. Was gibt es?« Er wandte sich seinem Team zu. »Es ist das Krankenhaus.«
Marielle, Frank und Harro schwiegen und lauschten. Doch außer dreimaligen kurzen Nachfragen von Kraus, ließ sich das Gespräch nicht mitverfolgen.
»Ich danke Ihnen. Ja, wir kommen.«
Kraus steckte sein Mobilteil in seine Jeans zurück.
«Was ist?«
Marielle und Frank fragten gleichzeitig.
Der Blick des Hauptkommissars blieb bei Harro hängen.
»Ich weiß nicht, warum die jetzt ausgerechnet mich angerufen haben. Vielleicht, weil sie eine Ermittlerin ist. Es geht nicht um unsern aktuellen Mord, Leute. Es geht um Willa.«
7
Treiben im Grau, ein Grau in Schattierungen von hell zu dunkel.
Zeit gab es nicht, Sekunden hätten Tage sein können, ein Jahrzehnt wiederum eine Sekunde. Es gab kein Kalt und kein Heiß, das Grau war eine lauwarme Suppe. Trotzdem fühlte sie sich wohl darin. Dieses Treiben gefiel ihr.
Dazu die Taubheit in ihr und um sie herum.
Sie wusste, dass es draußen eine Welt gab. Manchmal nahm sie Schatten dahinter wahr, manchmal Gemurmel. Einmal meinte sie ein Miauen zu hören, das trieb sie voran an die Ränder ihrer Einheitswelt. Aber sie war zu schwach, um darüber hinauszustoßen. Denn außerhalb lauerte Gefahr. Unbestimmt, nicht greifbar. Im Grau war sie sicher.
Allmählich stiegen Erinnerungen auf.
Manchmal glasklar, wenn auch winzig, kamen diese inneren Bilder aus der Mitte der grauen Wüste.
Sie sah sich selbst als Kind, an der Hand ihrer Mutter Anna. Wie müde Mama immer aussah. Und wie traurig. Wäre da nicht Onkel Willi, Mamas Bruder, der im Gegensatz zur alleinerziehenden Anna immer heiter und voller Elan schien, wäre die kleine Familie einfach nur ein trübsalgeschwängertes Duo gewesen. Willa-Mausi-Mädel, sein Kosename für sie. Er war Ersatz für einen Vater, den sie so gut wie nicht kannte. Onkel Willi, der Held ihrer frühen Kindheit.
Die Szene blätterte sich um, übersprang ein paar Jahre und zeigte Willas geliebten Onkel bei seiner Verhaftung. Nachdem er seine Verlobte im Affekt erschlagen hatte und ins Gefängnis musste. Enttäuschung und Wut auf Onkel Willi ersetzen die Zuneigung.
Zehn war sie, zehn Jahre alt und schon fertig mit der Welt.
Ihre erste Liebe, der Michi, zeigte sich in den Bildern, die Verlobung und das Ende der Verbindung. Ihr Entschluss, zur Polizei zu gehen, wie sie es ihrer Mutter mitgeteilt hatte. Die Ausbildung, das Studium, der Abschluss samt der Urkundenverleihung.
Inspektorin Willa Stark. Das war sie. Damit kam sie zurecht.
Schneller drehte sich das Bilderkarussell, die Kollegen, die Mordfälle, die privaten Affären, der Wechsel von Graz nach Köln.
Dann er.
Mit ihm der Sturz ins schwarze Loch der Bewusstlosigkeit.
Koma, dachte sie. Ins Koma geprügelt, geschlagen, gestoßen, dachte sie weiter. Dann stoppte sie, schob die Bilder dazu weg.
Sie begann den Kreislauf ihrer Erinnerungen erneut. Wieder und wieder.
Bis sich eine Veränderung einschlich.
Langsam verbanden sich die Abläufe in ihrem Kopf, verschmolzen miteinander. Es folgten Gefühle, ganz primär. Zuerst der Hunger. Ein entferntes Grollen, einem schwachen Donnern gleich. Einmal ein Stich. Ein Pieksen.
Aus dem Nichts erschien unerwartet der Punkt. Ein weißer Punkt. Weiß und abgegrenzt klar. Nach einer Unendlichkeit oder einer kleinen Weile bewegte sich der weiße Punkt auf sie zu oder sie strebte zu ihm hin. Er wurde heller. Das Weiß tat weh.
Hallo?, fragte sie ohne ihre Stimme zu benutzen. Ist? Jemand? Wo? Ich?
Hell und heller, wund und wunder, wurde es zwischen den Ritzen ihrer Welt.
Na gut, dann Servus, dachte sie.
Das erste, was Willa sah, als sie die Augen öffnete, war ihr Kater Jimmy.
Es war also alles okay, alles paletti, nur ein böser Traum.
Wie bei Alice im Wunderland die Grinsekatze verschwand Stück für Stück das Tiergesicht. Mit dem nächsten Blinzeln verwandelte sich Jimmys Schnauze in das runde Gesicht von Rechtsmediziner Harro deNärtens. Kugelrund schien er zu sein.
Doch bevor sie ihm ein Zeichen ihres Erwachens geben konnte, löste sich auch Harro auf.
Eine Weile geschah nichts.
Bruchstücke kamen und setzten sich neben sie.
Die Ermittlung.
Der Fall.
Er.
Willa schnappte nach Luft. Der nächste Schock erwartete sie. In ihrem Hals steckte etwas fest, das sie würgte und einem Alien gleich nicht zu ihrem Körper gehörte. Das Ding musste weg. Es erstickte sie.
Auch in der Nase, über den Wangen schien sich etwas festgesetzt zu haben.
Runter damit. Raus damit.
Noch unfähig, sich zu bewegen, konnte sie sich nur wünschen, dass die Qualen verschwinden sollten. Aber die Zeiten, wo das Wünschen geholfen hatte, schienen vorbei.
Was machte sie hier, in diesem unbekannten Raum?
Sie merkte, dass sie schwitzte. Schweißperlen liefen ihr über das Gesicht, den Hals herunter und verloren sich. Schon jetzt wusste sie, dass sie sich in dieser Umgebung niemals so wohlfühlen würde wie im Grau, aus dem sie vertrieben worden war. Warum lag sie nicht wenigstens in ihrem eigenen Bett?
Ein Galgen baumelte über ihr. Krankenhaus, dachte sie, und hasste diesen Ort. Sie war wieder bei Sinnen. Kein Grund, sie weiter hier zu behalten. Ihr steirischer Sturkopf hatte schon schlimmere Attacken ausgehalten.
Zeit zu gehen.
»Frau Stark? Hallo? Können Sie mich hören?«
Ein neues Gesicht. Lang, schmal, bleich. Es blieb vor Willas Augen bestehen, wurde konturierter, klarer.
Ich muss hier raus, sofort. Ich kann kaum atmen. Ich will wissen, warum ich in einem Krankenhaus bin.
Willa versuchte die Hände zu heben. Ein einziger Finger gehorchte ihr. Sie begann mit den Augen zu rollen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
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