Nach mehreren Tagen kam man sie endlich abholen. Die Überlebenden hörten das lang ersehnte Motorengeräusch schon aus der Ferne und freuten sich auf einen Schluck Wasser. Doch die Libyer brachten weder Wasser noch Nahrung. Im Gegenteil, schreiend befahlen sie der Gruppe aufzusteigen und schlugen jene, die zu schwach waren, um sich schnell zu bewegen. Erst am Abend bekamen sie notdürftige Verpflegung. Am folgenden Tag setzte sich die Höllenfahrt fort.
Als sie sich endlich der Küste näherten, mussten die Passagiere besser versteckt werden, um nicht an einer der vielen Straßensperren entdeckt zu werden. Sie wurden in den doppelten Boden eines Viehtransporters gepfercht. Obenauf wurden Schafe transportiert, die ihre Notdurft über ihnen verrichteten. Als einer sich beschwerte, feixte einer der Bewacher, dass sie es noch gut erwischt hätten. »Wir wollen ja, dass ihr überlebt.« Noch wenige Wochen zuvor waren Migranten in Betonmischern transportiert worden, bis die Polizei draufkam, sagte er. Bei einer Kontrolle bestanden die Polizisten darauf, dass der Fahrer den Mischer einschaltete. Auf diese Weise wurden die »Kunden« zu Tode gequetscht und deshalb habe man sich nun diese neue Transportmethode ausgedacht.
So fuhren sie unter der Schafherde nach Ajdabiya zu einer aufgelassenen Fischhalle. Dort sperrte man sie ein. Die Frauen bekamen ein wenig mehr zu essen, die Männer oft nur einen Teller Pasta zu fünft oder sechst. Es stank nach Fisch und Fäkalien und alle waren ständig schwach vor Hunger und Durst.
Die Bewacher forderten Geld, und wer keines aufbringen konnte, wurde geschlagen. Berhane konnte sich noch gut an einen sehr jungen Äthiopier erinnern, auf den sie so heftig mit Stöcken einschlugen, dass sein Körper über und über mit offenen Wunden bedeckt war.
Die fünf Frauen in ihrer Gruppe wurden wieder und wieder vergewaltigt, manchmal vor aller Augen und Berhane schauderte bei dem Gedanken, womit die Männer sie wohl auch noch angesteckt hatten.
Eines Tages stahl ein Somalier einem Bewacher eine Zigarette. Der bemerkte es und schlug ihn mit einer Schaufel so fest ins Genick, dass er tot zusammenbrach. Seinen Freund, der protestieren wollte, schlug er ebenfalls mit der Schaufel über das Gesicht. Er starb nach einigen qualvollen Stunden. Diese schrecklichen Bilder ließen Berhane nie ganz los.
Die Libyer verlangten von den Migranten sehr viel Geld, um sie gehen zu lassen. Aus Reisenden waren Geiseln geworden. Berhane kontaktierte seine Familie in Eritrea und einen Onkel in Kanada und konnte sich so die Hälfte der weiteren Reisekosten ausborgen. Mit den Schleppern konnte er nach langem Tauziehen vereinbaren, dass er für den Rest des Geldes arbeiten würde. Er sollte die Halle kehren, die Toiletten putzen und die Matratzen auf dem Boden zwischen den Schichtwechseln reinigen. Zwei Jahre lang.
Es war die Hölle für Berhane. Er wurde Zeuge von Misshandlungen und Vergewaltigungen, bekam selbst viele Prügel ab und sah viele Menschen vor seinen Augen sterben. Dabei war er gerade einmal achtzehn Jahre alt. Er überlebte diese Zeit nur, indem er sich abends an einen anderen Ort träumte. Er würde nach Frankreich kommen und eine freundliche Dame mit einem Hündchen treffen. Sie würde ihn aufnehmen wie einen Sohn. Er hätte ein Zimmer, könnte in die Schule gehen und einen Beruf erlernen. Dann würde er arbeiten, seine Schulden abbezahlen und ab und zu mit dem Hündchen spazieren gehen. Mit solchen Fantasiebildern überlagerte Berhane abends die Erinnerungen an die Schrecken des Tages.
Schließlich hatte Berhane den Rest des Lösegelds abgearbeitet und konnte die Reise über das Mittelmeer antreten. Mit kleinen Booten brachten die Schlepper sie zu einem größeren Schiff. Vierhundertsiebzig Leute, darunter sechsunddreißig Kinder waren auf dem Boot. Sie kamen aus verschiedenen Ländern Afrikas, doch eines hatten sie alle gemeinsam: die Angst vor dem Meer. Sie wurden auf zwei Decks untergebracht, Berhane kam auf das obere Deck. Das Unterdeck war nur durch eine kleine Luke zu erreichen und er dachte bei sich, dass sich von den Passagieren wohl kaum einer retten würde können, falls das Boot sank.
Sechzehn Stunden fuhren sie über das Meer. Was als mondhelle und windstille Nacht begonnen hatte, wurde zu einem stürmischen und regnerischen Vormittag. Das Boot schlingerte auf den Wellen und die Menschen schrien vor Angst. Einmal zog ein großes Schiff an ihnen vorbei, aber es half ihnen nicht. Nach einer weiteren Stunde tauchte aus dem Grau des Unwetters ein Fischerboot auf, nahm sie in Schlepptau und brachte sie nach Lampedusa.
Italien! Endlich! Die meisten Menschen auf dem Boot weinten vor Erleichterung, auch Berhane rannen die Tränen übers Gesicht, als sie ausstiegen.
Sie bekamen zu essen und zu trinken. Menschen in orangefarbenen Westen versorgten die Kranken und registrierten die Namen der Neuankömmlinge. Sie hatten freundliche Augen, mehr sah Berhane nicht von ihren Gesichtern, denn sie trugen Mundschutz. Angesichts des Gestanks konnte er es ihnen nicht verübeln.
Noch am selben Tag wurden die meisten Neuankömmlinge aufs Festland gebracht, auch Berhane. Mit Bussen transportierte man sie in eine nahe gelegene Stadt, zu einem Aufnahmelager. Dort mussten sie sich anstellen, um registriert zu werden. Bald machte unter den Wartenden das Gerücht die Runde, dass man ihnen hier die Fingerabdrücke abnehmen würde. Das war nicht gut und Berhane begann vor Angst zu schwitzen. Er wusste, dass man in Italien bleiben musste, wenn sie die Fingerabdrücke einmal hatten. Wer weiterzog, wurde angeblich wieder nach Italien zurückgeschickt. Davon hatten viele Mitreisende auf dem Schiff gesprochen. Einige sagten sogar, man sollte sich am besten die Fingerkuppen verbrennen oder mit einer Rasierklinge abschneiden. Berhane würde so etwas nicht über sich bringen, das wusste er. Allerdings wollte er auch nicht in Italien bleiben. Er wollte doch unbedingt nach Frankreich, dieses Land, das er sich seit dem Selfie auf Facebook so schön vorstellte.
Zusammen mit zwei anderen Eritreern, die er auf der Bootsfahrt kennengelernt hatte, fasste Berhane einen Entschluss. Man würde einen günstigen Moment abwarten und sich aus dem Staub machen. Als dann am Beginn der Warteschlange ein Geschrei ausbrach und das Aufsichtspersonal nach vorne eilte, schlichen sich etliche Wartende davon, so auch er und seine Freunde. Sie mussten nach Norden, er nach Frankreich, die anderen beiden wollten in die Schweiz beziehungsweise nach Deutschland, weil sie dort Verwandte hatten.
Einer der Burschen besaß ein Smartphone und hatte Landkarten von Italien heruntergeladen, die man offline benutzen konnte, und so marschierten sie entlang einer Hauptverkehrsstraße los. Es war unglaublich. Sie kamen durch Dörfer, wo die Menschen sie freundlich grüßten. Eine alte Frau winkte sie zu sich und gab ihnen einen warmen Laib Brot, den sie wohl gerade aus dem Backofen genommen hatte, sowie eine Flasche Wasser. Wie wunderbar doch die Menschen in Europa waren, dachte Berhane. In der nächsten Stadt fanden sie die Busstation und fuhren los. Gemeinsam reisten sie nach Bologna, dort trennten sich ihre Wege. Berhane wollte über Genua zum Grenzübergang Ventimiglia. Das sei der beste Weg nach Frankreich, stand auf den eritreischen Facebook-Seiten.
In Genua hatte Berhane kein Geld mehr, doch am Bahnhof traf er Landsleute, die ihm erzählten, wo er am Markt Kisten schleppen und etwas verdienen konnte. So arbeitete er am Tag und schlief nachts im Park, bis er das Geld für die Busfahrkarte beisammenhatte. Ein Eritreer riet ihm, es erst mit Autostopp zu versuchen, um Geld zu sparen. Und tatsächlich blieb ein Lastwagen stehen und der Fahrer nahm ihn mit. Diesmal musste er nicht unter Schafen kauern wie in Libyen, sondern durfte neben dem Fahrer in der Kabine sitzen. Berhane war in Hochstimmung. Ein Gespräch scheiterte an Sprachbarrieren, doch der Fahrer schenkte ihm eine Flasche Mineralwasser.
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