»Meinst du, das würde der machen? Das ist ja spannend.« Esther strahlte. Nach einem langweiligen Wochenende nun so etwas Aufregendes. Am liebsten wollte sie sofort aufstehen, den ›Gelben‹ suchen und beobachten, die Polizei rufen … »Ja, ich mache mit!« Das klang begeistert. »Aber was ist, wenn der eine Pistole hat? Mein Vater besitzt ein Schweizer Messer, soll ich das mitbringen?«
»Ja toll«, Rosa klatschte in die Hände, »hat der auch eine Taschenlampe?«
»Ja, hat er.«
»Bringst du die beim nächsten Mal mit? Dann haben wir zwei Lampen.«
Esther nickte, und Rosa entwickelte einen Plan:
»Dann müssen wir jetzt nur überlegen, wie wir ihn beobachten. Der darf uns ja nicht sehen. Wir sollten uns auf die Lauer legen, irgendwo im Gebüsch da vorne«, Rosa zeigte auf den Ausgang zur Gilbachstraße. »Und wir könnten auch in den zweiten Kellerraum gehen und suchen, was da noch sein könnte. Ich habe neulich, als ich im hinteren Raum stöberte, zwei silberne Esslöffel gefunden, mit eingeritzten Buchstaben im Löffelstil: Ein L und ein A. Vielleicht entdecken wir ja noch mehr Wertvolles. Rosa gefiel die Vorstellung, dort unter den Trümmern Reichtümer zu finden, die niemandem gehörten.
Mittlerweile regnete es leicht. Das machte das Sitzen ungemütlich. Sie standen auf und gingen in Richtung Gilbachstraße. Dabei erzählte Rosa ihrer Freundin andere Neuigkeiten der letzten Tage.
»Hast du von Winnie gehört? Der ist vom Eisenbalken in der Ruine Erftstraße gefallen. Meine Mutter hat sich sehr aufgeregt und geweint, als sie davon erfuhr. Sie kennt die Mutter vom Winnie gut.«
»Warst du dabei, als das passiert ist?«
»Nee … ich habe da gerade das Baby von Jasines verwahrt, die im Keller von Neckar 23 wohnt, die kennst du doch«, antwortete Rosa. »Aber die Jungs, die dabei gewesen sind, erzählten mir, wie die Mutter von Winfried geschrien hat, als man sie zur Unglücksstelle brachte und sie ihren Winnie da so liegen sah. Der sei ganz bleich gewesen und hätte im Blut gelegen«, fuhr Rosa fort. »Sie stürzte sich auf ihn, wollte ihn an sich ziehen und sein Gesicht streicheln, hat der Rudi erzählt, aber der Arzt und die Feuerwehrleute haben sie weggerissen und zum Rettungswagen gebracht. Da hat sie weiter geschrien. Dann gab der Arzt ihr eine Spritze. Sie wurde ins Martinus-Krankenhaus gebracht. Jetzt ist der Eingang zum Trümmerhaus mit Brettern zugenagelt. Schade. Bleibt nur noch unsere Neckar 11.«
»Und Winnie?«
»Der ist tot.«
»Wirklich? Warum ist der denn auf den Balken gestiegen?«, fragte Esther.
»War eine Mutprobe, machen die doch oft, die großen Jungs. Lass uns jetzt aber nicht mehr darüber sprechen«, bat Rosa. »Treffen wir uns morgen nach der Schule im Keller?«
Sie waren fast am Ende der Brache angekommen. »Du … es ist ja noch hell, lass uns doch jetzt mal schnell in den zweiten Keller gehen und suchen«, schlug Esther vor.
Rosa nickte ihr zu. Sie drehten um und liefen zum Rand der Ruine. Es war leicht, über die Steinhaufen zum schmalen Durchgang zu gelangen, der auf den Innenhof führte. Schnell erreichten sie ihn und stiegen hinunter in den hinteren Kellerraum.
»Guck mal, hier lagen die Silberlöffel herum. Vielleicht finden wir noch etwas.« Rosa zeigte in den Raum auf den Fundort der Löffel. Für solche Suchaktionen trug Rosa meistens die kleine Taschenlampe in der Rocktasche. So auch heute. Beide suchten im Lichtkegel der Lampe den Raum ab. Im hinteren Drittel lagen größere Steinbrocken aufeinander, dazwischen alte Decken, zerrissene uralte Kleidungsstücke, vom Staub bedeckt, manche von Ratten angenagt. Auch jetzt hörte sich ein Geräusch so an, als versuche eine Maus oder Ratte das Weite zu suchen.
Als Rosa sich bückte, sah sie wieder ein kleines rundes silbrig scheinendes Ding auf der Erde liegen. Sie hob es auf und staunte … es war ein Knopf, wie der, den sie auf ihrem Weg zum Speicher gefunden hatte. »Esther«, rief sie aufgeregt, »guck mal, was ich gefunden habe.«
Esther kam aus der anderen Ecke und betrachtete den Knopf. Sie drehte ihn um. »Hier ist was eingeritzt. M O T Z, was bedeutet das wohl?«
Das Geräusch näher kommender Schritte aus dem vorderen Keller ließ sie innehalten.
Rosa und Esther drehten sich um. Eine Person blieb im Durchgang zum hinteren Kellerraum stehen, schaute sie an. Rosa leuchtete mit der Taschenlampe in seine Richtung und erkannte den alten Mann, den ›Gelben‹. Als er die Kinder erblickte, wandte er sich kurz um und ging dann zurück durch den ersten Keller in Richtung Treppenaufgang. Esther lief hinterher und prallte gegen ihn, als der Mann plötzlich stehenblieb. Nun ging alles ganz schnell: Der Gelbe versetzte Esther einen leichten Schubs, sie fiel hin. Er rannte weg, die Treppen hoch und hinaus auf den Hof. Dort stolperte er und wäre fast gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen und lief weiter über die Steine zur Brache. Esthers Herz pochte. Sie rappelte sich auf und folgte ihm in den Hof, als sie plötzlich ein rotes Büchlein auf dem Boden liegen sah. Ihre Wangen glühten.
»Guck mal, der hat was verloren.« Esther hob es auf. Das kleine Buch mit rotem Buchdeckel musste dem Mann beim Stolpern aus der Manteltasche gerutscht sein.
»Mach mal auf!« Rosa, die ihr gefolgt war, hüpfte von einem Bein aufs andere, gespannt wie noch nie.
Esther öffnete das Buch. Es bestand nur aus fünf Seiten, alle weiteren hatte jemand herausgerissen. Der Einband trug einen Adler auf der Vorderseite. Sie blätterten die zweite Seite auf.
»NATIONALISTISCHE ARBEITERPARTEI DEUTSCHLAND«, las Esther vor.
»Mitglied: Richard Augsburger, Wohnhaft: Neckarstraße 11, Düsseldorf«, las sie weiter. Ihr verschlug es fast die Sprache.
»Boah … guck mal, das ist ja die Adresse von hier, vom Trümmerhaus.«
Sie blickten sich erstaunt an.
»Komm schnell, das müssen wir den anderen zeigen«, rief Rosa aufgeregt. »Vielleicht sind Rita und Walter ja auf der Straße.«
Sie klappten das Buch zu und verließen den Hof durch den Ausgang zur Neckarstraße.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lungerte eine Gruppe älterer Nachbarskinder vor einem der Hauseingänge herum. Zu ihnen gehörte die vierzehnjährige Rita, Esthers Schwester. Sie hatte schon einen heimlichen Freund, Walter, mit dem sie oft eng umschlungen im Hafen spazieren ging. Alle wussten das. Er war sechzehn und stand auch dabei, zusammen mit seinem Freund Stefan.
Diese Größeren besaßen die Arroganz der Pubertät von Leuten, die, wie sie sagten, schon allerhand mitgemacht hätten. In gewisser Weise war das richtig, denn der Krieg und die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch hatten ihnen die Kindheit gestohlen und sie mit dem brutalen Zwang zum Überleben viel zu rasch älter werden lassen. Sie rauchten, tranken Bier, konnten alles irgendwie besorgen, wollten ein paar Mark verdienen und taten so, als kannten sie das Leben in- und auswendig und als könne sie nichts mehr zum Staunen bringen. Das Wichtigste für sie war Fußball, die Fortuna, Toni Turek und das Stadion. Auch wenn sich Rosa und Esther bei den Großen wohlfühlten, bekamen sie oft, vor allem von Stefan und Walter, zu spüren, dass sie nicht ernst genommen wurden. Dann lachten die beiden Jungs über die Kleinen und den Kinderkram in ihren Geschichten. Doch heute glaubten Rosa und Esther, sie mit ihrem Fund beeindrucken zu können.
»Sollen wir euch mal zeigen, was wir gerade im Hof vom Trümmerkeller gefunden haben?« Rosa zog stolz das rote Büchlein und den Knopf aus ihrer Jackentasche.
»Auweia, das ist doch ein Parteibuch der Nazis«, rief Stefan aus, »mein Vater hat auch so eins. Im Schrank versteckt! Die darf man heute nicht mehr zeigen, hat er gesagt. Aber in ein paar Jahren könne man die für viel Geld verkaufen.«
Rita war neugierig geworden. »Lass mal gucken, das habe ich noch nie gesehen.«
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