Heisse Tränen rannen über die hageren Wangen des Sprechers, Graf Dynar aber hob in jähem Entschluss das Haupt und sagte ernst und kurz: „Gebt mir Janek, ich will ihn adoptieren.“
Der Pole zuckte zusammen, ein starrer, fast irrer Blick traf das Antlitz des Sprechers. „Adoptieren?“ wiederholte er mechanisch.
„Das Schicksal hat mir einen Sohn versagt,“ fuhr Dynar mit ruhiger Stimme fort. „Meine Gemahlin starb, und wer sie gekannt, und wer meine Liebe zu ihr ermessen könnte, der würde begreifen, dass ich nie eine zweite Ehe schliessen werde. Dennoch wünschte ich mir für meinen Namen einen Erben. Janek hat mein ganzes Herz gewonnen, ich liebe den Knaben. — Er soll sich mit meiner Tochter dereinst in mein Erbe teilen, es ist gross genug für zwei.“
Wie ein Zittern fasste es die Glieder des Flüchtlings.
„Janek, — mein liebstes, mein letztes Kind, — das einzige Kleinod, welches mir noch aus der Fülle übrig blieb — oh Herr mein Gott — lass mich nicht auch dies letzte noch verlieren!“ Dann senkte er das Haupt tief auf die Hände hernieder und verharrte etliche Minuten regungslos. „Nehmt meinen Sohn, bis Polen auferstanden ist zu seiner alten Pracht — und dann — dann gebt mir um Gottes Barmherzigkeit willen mein einzig Kind zurück!“ rief er plötzlich emporschreckend.
„Bis Polen auferstanden ist!“ — ein wehmütiges Lächeln zuckte um die Lippen des Grafen, er schüttelte traurig das Haupt. „Wer weiss, ob wir’s erleben, — wer weiss, ob’s jemals ist. Gleichviel! Erhält Polen seine Freiheit zurück, und können Sie dereinst in Ihre alten glänzenden Verhältnisse und Rechte wieder eintreten, so mag es Ihrem Sohne freistehen, unsere beiden Namen auf seinem Wappenschilde zu vereinen, bis dahin aber sei er mein unbestrittenes Eigentum, welchem Ihre Vaterliebe das grösste Opfer bringt, dasjenige des vollkommenen Entsagens.“
Die Brust des Polen atmete fast keuchend. „Es sei! — kann ich mein Kind in sein befreites Vaterland zurückführen, so steht mir das Recht dazu offen!“ rief er mit blitzendem Auge.
„Und Sie geloben mir als Ehrenmann, bis dahin nie irgend welche Ansprüche an Janek zu erheben?“ Graf Dynar bot mit feierlichem Ernst die Hand entgegen. „So schlagen Sie ein!“ Beide Hände verflochten sich in heiligem Schwur.
„Gott lohne Ihnen alles Gute, was Sie an meinem Kinde thun, mit tausendfachem Segen.“
„Soll Janek seinen wahren Namen erfahren?“
Der Flüchtling schüttelte finster das Haupt. „So lange Polen geknechtet ist, wird ihm dieser Name ein Fluch sein, man wird auch an ihm, dem Unschuldigen, heimsuchen, was an mir verfolgt wird, — den Rebellen. Mein kühner, allzu kühner Mut hat das Wappenschild gestürzt, zu dessen Träger mein Sohn bestimmt war, und wenn ich ihm dieses, sein heiliges Gut und Angebind, nicht im alten Glanze und in makelloser Reinheit zurückerstatten kann, dann soll er’s ganz verlieren. Sie nehmen Janek als Kind an Ihre Brust, wohlan, so geben Sie ihm auch den ehrlichen, unbescholtenen Namen Ihres Hauses. Und damit Sie wissen, dass kein unedel Reis Ihrem Stammbaum okuliert wird, erfahren Sie, auf den Handschlag ewigen Schweigens hin, den Namen dessen, der hier vor Ihnen steht!“
Der Pole neigte sich tief zu dem Ohr des Grafen und flüsterte ihm etliche Worte zu.
Dynar erhob sich, verneigte sich respektvoll und drückte dem Fremden die Hand. „Der Name wird in meiner Brust versorgt sein, bis Sie selber das Siegel von meinen Lippen nehmen.“
Noch einmal kniete der geheimnisvolle Gast der Sturmnacht an dem Sarge seines jüngsten Kindes, welcher in der Kapelle aufgebahrt war, dann trat er an das Lager des schlafenden Janek und blickte lange, lange auf das friedliche Kindergesichtchen herab. Die Tränen rannen haltlos über seine Wangen, er presste das Antlitz in die seidene Decke und weinte bitterlich.
„Leb wohl, mein Janek! Vergieb es der Liebe Deines Vaters, dass sie Dich in der Fremde hier zurücklässt! Grau und düster ist meine Zukunft, dornig der Weg, den ich wandeln muss, zu hart, zu mühsam für Deinen kleinen Fuss! Hier wird Dich Liebe und Überfluss mit weichen Armen halten, Dir ist der Tausch ein Segen, wie er mir ein Fluch sein wird! Aber Deines Vaters Herz wird Dir gehören, sein Gebet Dich nennen, all seine Sehnsucht bei Dir sein! Leb wohl, Du letzter Strahl meines Glückes! Einst sehen wir uns wieder — einst, wenn Polens goldenes Szepter sich aufs Neue heben wird, — wenn die Flüchtigen zur Heimat kehren, find’ ich Dich wieder, Kind!“ Der bleiche Mann sprang jäh empor und starrte mit brennendem Blick auf den schlafenden Knaben nieder, — „ja ich finde Dich unverändert! Mag auch das deutsche Element seine Wogen um Dich schlagen, mag Sprache und Sitte Dich meinem Herz entfremden — eines bleibt ewig, in jeder Form und Farbe wahr und echt, die zaubermächtige Gewalt unseres Nationalgeistes, das unsichtbare Band der stammverwandten Seelen, das — was Du nie verleugnen, was nie ein Deutschtum in Dir morden kann — Dein polnisch Blut!“ Heiss küsste er die Lippen des Kindes, dann wandte er sich stolz, sicher und zuversichtlich der Thüre zu.
An der Schlosstreppe harrte der Schlitten.
Schnell, gewaltsam umarmte der Pole seinen Gastgeber. „Gottes Segen über Sie und mein Kind!“ Dann sprang er in das Gefährt, und lautlos wie ein Schatten flog der Schlitten über den Schnee, in die dunkle, sternlose Winternacht hinaus.
Die schwerseidenen Damastgardinen vor den Fenstern des Ahnensaals waren zurückgeschlagen und liessen das falbe Schneelicht seit langer Zeit zum ersten male wieder über die gebräunten Parquettafeln schimmern, welche sich, im Muster des Dynarischen Wappens zusammengefügt, als eine der ältesten und kostbarsten Raritäten in dem Schlosse erhalten hatten. An den Wänden hingen dicht gedrängt die lebensgrossen Bildnisse der gräflichen Ahnen, von reichgeschnitzten Leisten umrahmt, deren Ecken meistens das Wappenschild aufwiesen, und deren Knauf die neun Perlen schmückten.
Kleine Silbertafeln, unter den Bildern in das Wandgetäfel eingelassen, nannten die Namen, Geburts- und Todestage der Längstverblichenen.
An der Nordwand, zwischen den beiden ältesten Gemälden, einer hohen Männergestalt im Gewande der Kreuzritter und einem Damenbildnis, war der Stammbaum der Reichsgrafen von Dynar entrollt, in dessen vorletztem Schild mit kräftig stolzen Schriftzügen aufgezeichnet stand: „Gustav Adolf, geboren 1800, V, III, vermählt mit Anna Euphemia, Fürstin Tautenburg, Erbherrin zu Heller-Hüningen, geboren 1816, II, VI † ... 1838, ...“
Mit unsicherer, zitternder Hand war das Kreuz und die Zahl dahinter gezeichnet, und mit derselben noch frischen und schwarzen Tinte war ein Zweig mit zwei Schildern aus dem Wappen dieses Elternpaares gezeichnet.
Inmitten des Saales war ein Altar errichtet, geschmückt mit kostbaren, uralten Silbergeräten, umgeben von frischem Tannengrün, auf welchem noch der geschmolzene Schnee wie blitzende Tauperlchen glimmerte, leise herniedertropfend auf den weichen Teppich, in dessen Mitte das goldene Taufbecken stand, auf einem wurmstichigen Gestell, welches aus einer Ceder des Libanon geschnitzt und mit dem Holz eines Oelbaums, vom Ahnherrn aus dem gelobten Lande heimgebracht, ausgelegt war.
Seit Menschengedenken, soweit die Familienchronik zurückreichte, hatten die Reichsgrafen von Dynar an dieser Stelle und aus diesem Taufstein den Segen empfangen, welcher sie zu Mitgliedern der christlichen Gemeinde gemacht.
Auch das Töchterchen Gustav Adolfs sollte in der nächsten Stunde in ernster Feier vor diesen Altar des Herrn getragen werden.
Tiefe Stille herrschte in dem weiten, hallenartigen Saal. Das trübe Licht eines schneedurchwirbelten Wintertages vermochte kaum das Halbdunkel des grossen Raumes zu brechen; wie düstere Streifen lagen die Schatten der Säulen auf dem Getäfel des Fussbodens, roten Funken gleich brannten die Flammen auf den Kandelabern.
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