Seine Lippen zucken unter den Qualen, die er leidet, er öffnet ein Buch, starrt hinein und schlägt es aufstöhnend wieder zu.
Die Uhr holt aus und schlägt.
Da klingen Schritte auf dem Korridor, der alte Ewald tritt hastig ein.
„Herr Graf — —“
Schon steht der Genannte neben ihm und will an ihm vorüber durch die Thür stürmen: „Der Wagen? .. Hans? ..“
„Nein, gräfliche Gnaden!“ Ewald schüttelt fast zornig den grauen Kopf und macht eine Bewegung, als wolle er seinen Herrn zurückhalten. „Verlaufen Gesindel klopft bei uns an und fleht um Gottes Barmherzigkeit willen um Aufnahme! — Ein Mann, zerlumpt wie ein Zigeuner, sein Weib und zwei Kinder!“ — — Der Alte neigt sich noch näher und fährt geheimnisvoll flüsternd fort: „Es sind allem Anscheine nach polnische Insurgenten, die sich über die Grenze geflüchtet haben! Solch Volk ist wie Pech, das man nicht angreifen soll, will man sich nicht die Finger besudeln, gräfliche Gnaden!“
Ein furchtbarer Windstoss fährt heulend durch den Kamin und peitscht die Eiskörner prasselnd gegen die Fensterläden. Graf Dynar, welcher zuerst bitter enttäuscht zurückgewichen war, trat eilig wieder der Thür zu.
„Kinder sind dabei, sagst Du?“ fragt er hastig, „und solch unglückliche Menschen sollt’ ich bei diesem Wetter von meiner Schwelle weisen?“ Eine Falte senkte sich tief in die Stirn Gustav Adolfs und eine ungeduldige Geste befahl dem Diener, den Weg frei zu geben. „Lass mich hinab!“
Da geschah das Unerhörte, dass Ewald die Hand auf den Arm seines Gebieters legte und wie beschwörend zu ihm emporflehte. „Nehmt sie nicht in das Schloss, gnädigster Herr, sie führen ein sterbendes Kind mit sich! Wer weiss, was ihm fehlt und was sie uns hier einschleppen! — In dem alten Pferdestall ist ja Platz genug und ein gut Unterkommen für solche Landstreicher und Kosyniers, die bei Gott nicht verwöhnt sind und — —“
„Ein sterbend Kind!“ — Wie ein qualvolles Aufstöhnen rang es sich von den Lippen des Grafen, ohne den Alten ausreden zu lassen, schob er ihn fast ungestüm bei Seite und eilte durch die Thür, über den Korridor, die Treppe hinab.
In dem grossen hallenartigen Vestibul des Erdgeschosses, beleuchtet von dem rötlich matten Schein zweier Wandlampen, kauerte ein junges Weib auf dem Sockelrand einer hohen Bronzestatue, tief über einen Säugling geneigt, und rieb die starren Glieder laut schluchzend zwischen den eigenen kalten Händen.
Neben ihr kniete eine Männergestalt, den Oberkörper nur von einem Hemd bekleidet, barhäuptig, mit beschneitem Bart- und Haupthaar. — Er versuchte den kleinen Körper mit dem Hauch seines Atems zu erwärmen. Neben ihm, in den Rock des Vaters gewickelt, lag gleich einem Häufchen Unglück ein etwa vierjähriger Knabe in tiefem Schlaf auf den Steinfliesen.
Der Schritt des Grafen hallte auf der gewundenen holzgeschnitzten Stiege, — der Fremde wandte das Haupt, sprang empor und eilte ihm mit der Hast der Verzweiflung entgegen.
„Monsieur le comte?“
Graf Dynar blickte frappiert in das totenbleiche verwilderte Antlitz, welches mit schwarzblitzenden Augen ihm entgegenstarrte, auf den Mund, welcher in fliessendem Französisch um Hilfe und Erbarmen flehte.
Mit schnellem Schritt stand Gustav Adolf neben dem Weibe und neigte sich über den leblosen Körper des Kindes.
„Was fehlt ihm?“ fragte er kurz.
„Erfroren!“ — — Wie ein Aufschrei rang es sich von den Lippen des Polen. „Gebt uns ein paar Tropfen heisse Milch — ein warmes Tuch — vielleicht können wir die kleine Seele wieder zurück rufen!“ Und mit einem Ausdruck leidenschaftlichsten Schmerzes riss er das Kind empor, um sein starres Gesichtchen mit Tränen und Küssen zu überfluten.
Ein namenloses Weh presste das Herz des Grafen zusammen. Er gab kurze, hastige Befehle an das Gesinde, welches gaffend herzudrängte, neigte sich, nahm selber den schlafenden Knaben von der Erde empor und wandte sich wieder zur Treppe.
„Folgt mir!“ winkte er den Fremden.
Federleicht war die Last auf seinen Armen. Ein schmächtiges Körperchen, nackte kleine Arme glitten aus den groben Rockfalten, ein dunkles Lockenköpfchen senkte sich matt wie eine gebrochene Blüte gegen die Brust des Erbherrn von Proczna.
Gustav Adolf starrte auf das blasse Knabengesicht hernieder, dessen Zähne selbst im Schlaf vor Kälte aufeinanderschlugen, er beschleunigte seine Schritte, trat in das soeben verlassene Zimmer zurück und bettete seine zitternde Bürde in die schwellenden Kissen eines Divans, sorglich, zärtlich wie eine Mutter breitete er die sammetweiche Felldecke über das Kind, strich kosend die nassen Haare aus der Stirn und wandte sich alsdann wieder zu den Fremden, welche ihm schweigend gefolgt waren.
„Ewald! schaff’ von meinen Anzügen herzu und sag’ Deiner Frau, dass sie für trockene Weiberröcke sorge. Die Leute müssen vor allen Dingen warme Kleidung auf den Körper bekommen! Das Essen soll so schnell wie möglich hier herauf besorgt werden!“
Ewald schlurrte eifrig, jetzt selber von tiefstem Mitleid ergriffen, davon, während Graf Dynar mit Hilfe des Polen und der Kammerfrau Gustine Wiederbelebungsversuche mit dem Säugling anstellten.
Vergeblich. — Dem eisigen Sturm, der Wanderung durch Nacht und Kälte hatte dieses junge Leben nicht trotzen können; kein Atemzug hob die kleine Brust, bleich und kühl wie eine Schneeflocke lag es auf dem weichen Kissen.
Die Polin war auf dem Teppich neben dem Kamin zusammengesunken, mit geschlossenen Augen, übermannt von Schwäche, lag sie wie bewusstlos in dem flackernden Feuerschein, welcher mit grellen Lichtern auf dem bäuerischen Nationalkostüm, den nachtschwarzen, sturmzerwühlten Haaren spielte. Man bettete den toten Körper des Kindes in einen Nebensalon, dann bemühte sich Gustine, das fremde Weib zu kleiden, während Graf Dynar den kleinen Schläfer auf dem Divan mit freundlichen Worten weckte, um ihn mit heisser Suppe zu speisen.
Grosse, tiefdunkle Augen schlugen sich auf, ein langer fragender Blick haftete auf dem Antlitz des Grafen, dann schlangen sich die nackten Arme furchtlos um seinen Nacken und ein mattes Stimmchen flüsterte polnische Worte.
„Ja, Du bist hier wieder zu Haus,“ nickte Gustav Adolf, welcher im Verkehr mit seinen meist polnischen Dienstleuten die Sprache ein wenig erlernt hatte, — und er hielt das Kind auf dem Schoss und legte die bleiche Hand beruhigend auf das lockige Köpfchen.
Drei Tage waren seit jener Sturmnacht verstrichen.
Endlose Schneefelder, weisse frostglitzernde Tannenwälder dehnten sich vor den Bogenfenstern Procznas; und wie weit auch der Blick schweifen mochte, ausser den Krähenschwärmen, welche laut krächzend, mit dunklen Schwingen über das verschneite Land strichen, gewahrte er kein lebendes Wesen, keine Unterbrechung dieser Einöde, welche Himmel und Erde durch grauen Dunstschleier mit einander verschmolz.
Graf Dynar lehnte an dem Fenster und blickte gedankenvoll auf die Terrasse nieder, um deren Ballustrade die entblätterten Ranken des wilden Weins wehten, ein rötlicher Schein am westlichen Himmel verkündete, dass dort die Sonne hinter den Nebelwolken versank, mit falbem Abglanz die weissen Baumwipfel überhauchend, und die Türme Procznas mit rosigen Streifen säumend, gleich einem Gruss der Hoffnung, welcher bleiche Wangen höher färbt.
Auch über das ernste Antlitz des Schlossherrn schimmerte es licht, und verklärte das Lächeln, welches fast unbewusst, und seit langen, qualvollen Tagen zum ersten mal wieder um die farblosen Lippen spielte.
Von nebenan, aus dem Zimmer der kleinen Komtesse klang eine klare, volle Frauenstimme, welche bereits seit einer Viertelstunde ihre seltsamen und unbekannten Lieder sang.
Da wiegte Jadwiga, die Insurgentin, das Töchterchen des deutschen Reichsgrafen an der Brust, und sang ihm all die glühenden, leidenschaftlichen Lieder der Heimat.
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