Die Beamten am Flughafen begutachteten meinen Pass eine halbe Ewigkeit, ließen ihn von Hand zu Hand wandern und musterten mich ausführlich. Mein Nachname Bat’a Arambašić musste wohl doch etwas in ihrem Kopf zum Rattern gebracht haben. Da gab es keine weibliche Endung mit -ová, nur einen männlichen Tabu-Nachnamen, kombiniert mit etwas Balkanischem … Doch keiner stellte mir eine Frage. Einer von ihnen machte einen Telefonanruf, dann nickten sie wieder, gaben mir schließlich den Pass zurück und ich durfte hindurch zur Ankunftshalle. Die anderen warteten schon auf mich, voller Neugier darauf, das kommunistische Land zu besichtigen. Ihre Begeisterung für das verbotene Abenteuer gefiel mir nicht. Ich war nicht neugierig. Ich war durcheinander. Ich verspürte zwar keine Angst mehr, aber es war, als hätte ich einen Schlag mit dem Eisenhammer auf den Kopf bekommen. Ein Bekannter unseres Chefs hatte ein Hotel für uns organisiert, das sich auf der Prager Kleinseite befand. Ich hatte mir etwas Kleines, Gemütliches vorgestellt, aber es war ein riesiger verglaster Kasten voller Ausländer. In der Hotelhalle herrschte ein Betrieb wie auf dem Bahnhof, und die Pagen bettelten einen glattweg um Trinkgeld an. Es war jedoch nicht weit entfernt von der Burg, und so brachen wir, nachdem wir ausgepackt hatten, gleich dorthin auf. Meine Kollegen wünschten sich, dass ich für sie dolmetschte, also tat ich es. Ich erinnere mich, wie ich im Taxi vom Flughafen meinen allerersten Satz übersetzte – der Taxifahrer guckte mich komisch an und fragte, wo ich denn herkäme. Als ich antwortete, aus Brasilien, meinte er, das sei nicht möglich, ich spräche ja mährischen Dialekt. »Ja, meine Familie stammt aus Mähren, aus Zlín.« Er schüttelte nur verständnislos den Kopf. Zuerst konnte ich das Prager Tschechisch nicht gut verstehen, die Betonung befremdete mich, und so war ich, Plaudertasche aller geselligen Abende und große Witzeerzählerin, auf einmal merkwürdig stumm. Ich hatte geglaubt, ich würde nach ewig langer Zeit endlich nach Hause kommen, dabei war ich hier nie zu Hause gewesen! Als wir zum Burgareal kamen, den ersten, dann den zweiten Hof durchquerten, stellte ich mich vor dem Portal des Domes auf und begann meinen Freunden zu erklären, wer ihn errichtet hatte, in welchem Jahr, und all diese Informationen, die ich wie eine Fremdenführerin aus mir herausschüttete. Und dann fing ich plötzlich an zu weinen. Die anderen sahen mich an, doch ich weinte und weinte und konnte nicht mehr aufhören. Ich setzte mich für einen Moment im Kircheninnern auf eine Bank, um mich zu beruhigen, während die anderen den Dom besichtigten, und blieb etwa eine Stunde dort sitzen. Und während meine Freunde mich alleine ließen und zum Goldenen Gässchen gingen und sich die Kleinseite anschauten, Cafés und Souvenirläden durchstreiften, saß ich immer noch da und heulte. Manchmal schöpfte ich kurz Atem und beobachtete die Touristenströme, dann heulte ich wieder weiter. Es war wie ein Platzregen, ein Erdbeben, eine Naturkatastrophe. Nie zuvor war mir so etwas passiert. Schließlich kamen die anderen mich abholen und brachten mich ins Hotel, wo ich mich ins Bett legte und leise weiterweinte. Abends gingen wir zum Essen ins Restaurant Zlatá Husa, die Goldene Gans. Die Speisen dort waren unglaublich billig, und mir gefielen die Holzverkleidung an den Wänden, der Biergeruch, die unwirschen Kellner. Mir kam alles so vertraut vor, und vielleicht deshalb fing ich wieder an zu weinen und weinte dann die ganze Nacht durch. Die armen Juristen wussten gar nicht, was sie mit mir anfangen sollten, und begriffen nichts. Aber ich konnte mir einfach nicht helfen. Am nächsten Morgen war es dann vorbei. Ich stand auf und beschloss, jetzt gleich nach Zlín zu fahren. Die anderen wollten mit mir kommen und sich die Stadt anschauen, von der ich behauptet hatte, dass meine Familie sie errichtet habe. Wir wollten für den ganzen Tag ein Taxi von Prag nach Zlín buchen. Aber ich glaubte dem Fahrer sagen zu müssen, wer ich war, denn ich fürchtete, er könnte Probleme bekommen, wenn er die Enkelin von Jan Antonín Bat’a fuhr. »Könnten Sie uns nach Zlín bringen?« – »Ach, Sie sind das?!« Es war derselbe Chauffeur, der uns vom Flughafen hergebracht hatte, offenbar wurde er von diesem Hotel oft angerufen. »Junge Dame, wissen Sie denn nicht, dass Zlín schon lange nicht mehr existiert?« – »Wie bitte?« Ich konnte es nicht fassen. »Na ja, als Stadt schon noch, aber es heißt jetzt Gottwaldov!« Er lachte, und mir fiel ein, dass Großvater es einmal erzählt hatte, als von der Schwiegermama Gerbecová ein Brief aus Zlín gekommen war, in dem es hieß: »Nu, Jan, schreib ab jetzt nach Gottwaldov«, und Großmutter Maja darauf vor Wut den Löffel auf den Tisch geknallt hatte. »Ach ja, richtig. Und würden Sie mich dorthin fahren, auch wenn ich die Enkelin von Jan Antonín Bat’a bin?«, vergewisserte ich mich. »Im Ernst?! Das gibt’s doch nicht!«, rief er aus und fügte hinzu: »Reinsetzen, los geht’s, wir fahren nach Zlín, junge Dame. Nach Zlín fahre ich Sie sehr gern, nach Gottwaldov würde ich nicht fahren, aber Zlín ist was andres«, erklärte er lächelnd und meinte noch, er werde schon keine Probleme bekommen.
Also fuhren wir los. Hin zu dem mythischen Ort, dem Mittelpunkt aller Anekdoten und Legenden meiner Kindheit. Es war noch nicht die Suche nach dem heiligen Gral der Gerechtigkeit, die sollte erst später kommen, nach anderen, nicht ganz so abenteuerlichen Besuchen. Nun sah ich also das erste Mal Zlín. Prag war mir so grau verstaubt erschienen, überall bröckelnder Putz und Risse, und Zlín sah nicht viel anders aus. Ich fand, sie könnten hier doch mal streichen, vor allem Großvaters Fabrik. Wir hatten ein paar Straßen entfernt geparkt, und ich ging zu Fuß dorthin. Es war nachmittags, und die Leute kamen gerade aus dem Fabrikgebäude. Und da fiel mir auf, dass sie im Vergleich mit den Pragern irgendwie fröhlicher wirkten. Die Männer scherzten miteinander, die Frauen schwangen ihre Taschen und ihre langen Haare und erzählten sich etwas Lustiges. Vielleicht war ja doch noch etwas vom Geist der sogenannten Batamanen übrig geblieben? Ich nahm mir vor, meiner Mutter und meinen Tanten davon zu erzählen. Aber was, wenn auch vom Geist des Jahres 1947 etwas zurückgeblieben war, als, wie ein Foto bezeugt, am Haupttor ein Schild mit der Aufschrift hing: Höchststrafe für den Verräter J.A. Bat’a . Was blieb in dieser Fabrik überhaupt noch von Großvater?
Anschließend wollte ich den Waldfriedhof besuchen, um am Grab meiner Urgroßmütter und von Großonkel Tomáš Blumen abzulegen. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber in dem Moment glaubte ich in meinem Kopf Worte zu hören, die eine besondere Vorstellung von diesem Ort heraufbeschworen. Diese Stimme in meinem Kopf war nicht die von Tomáš, sondern die meines Großvaters, und sie sagte: »Wir haben uns daran gewöhnt, den Friedhof als einen Ort des Jammerns und Wehklagens zu betrachten. Doch ein Friedhof sollte, wie alles auf der Welt, dem Leben dienen. Aus diesem Grunde sollte er so beschaffen sein, dass die Lebenden ihn gerne und mit ruhiger Heiterkeit aufsuchen. Sie könnten dort zum Beispiel etwas spielen, eine Kleinigkeit vespern und sich im Guten an die Angehörigen erinnern, die dort in Stille und Frieden und unter dem Rauschen der Bäume schlafen.« Ganz genau: Wie gerne wollte ich jetzt in friedlicher Ruhe dort auf dem Friedhof einen kleinen Imbiss einnehmen und darüber nachdenken, was ich hier eigentlich tue. Doch der Taxifahrer hatte keine Ahnung, wo das Ganze sein könnte. Wir fragten an der Straße eine alte Frau mit Kopftuch und Schürze, die sofort bereit war, es uns zu zeigen, es sei nicht weit, am besten fahre sie gleich mit. Mit einem Ächzen schob sie sich zu uns ins Taxi und wir fuhren los. Sie redete so wie ich, sagte »Nu« und »Herrschaftszeiten«, und nachdem sie uns aus der Nase gezogen hatte, was wir auf dem Friedhof suchten, zwinkerte sie mir zu und erklärte, sie wolle uns zuvor noch etwas zeigen. Sie dirigierte den Chauffeur bis draußen vor die Stadt, und dort auf dem Ortsschild hatte jemand GOTTWALDOV durchgestrichen und von Hand ZLÍN-BAŤA darübergeschrieben. Ich wollte es schon fotografieren, überlegte es mir aber anders, schließlich wollte ich auch wieder nach Brasilien zurückgelangen. Auf der Rückfahrt von Zlín nach Prag kamen wir an einem riesigen Transparent mit der roten Aufschrift Auf ewig mit der Sowjetunion vorbei, aber quer darüber stand mit schwarzem Spray gesprüht SCHEISS DRAUF. Ich musste so lachen, dass ich mir fast in die Hose machte, und als ich es den anderen übersetzte, bebte das ganze Taxi vor Gelächter. Auch der Chauffeur grinste und rauchte zufrieden. Dann wollte er von mir wissen, ob ich noch etwas von dem gespürt hätte, wie Zlín früher gewesen war.
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