MARKÉTA PILÁTOVÁ
Roman
Aus dem Tschechischen von
Sophia Marzolff
Die Herausgabe dieses Buches wurde vom
Kulturministerium der Tschechischen Republik unterstützt.
Originaltitel: S Bat’ou v džungli . © Torst, Praha 2017.
Die Übersetzerin dankt den Spendern des Perewest-Stipendiums
und dem Freundeskreis zur Förderung literarischer und
wissenschaftlicher Übersetzungen e.V. für die Vergabe
des Perewest-Arbeitsstipendiums 2019.
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Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99029-382-9
eISBN 978-3-99047-111-1
»Aber ich bin dort daheim und
werde es bis zu meinem Tode sein,
wo auch immer er mich antrifft.«
JAN ANTONÍN BAŤA
LUDMILA
EDITA
JAN ANTONÍN
DOLORES
DER UNGARISCHE MALER
DOLORES
LJUBODRAG
LUDMILA
EDITA
JINDŘICH WALDES
JAN ANTONÍN
DIE FABRIK
DOLORES
LADISLAV PINGA
EDITA
LUDMILA
LJUBODRAG
DOLORES
LJUBODRAG
DIE FABRIK
JAN ANTONÍN
EDITA
JAN ANTONÍN
LUDMILA
DOLORES
LJUBODRAG
DOLORES
JAN ANTONÍN
LUDMILA
LJUBODRAG
DOLORES
JAN ANTONÍN
DOLORES
JAN ANTONÍN
LJUBODRAG
JAN ANTONÍN
LUDMILA
EDITA
LUDMILA
EDITA
LJUBODRAG
DOLORES
JAN ANTONÍN
LJUBODRAG
DOLORES
Nachbemerkung der Autorin: Die Sonntagsmethode
(Tomáš Bat’as Halbbruder, der die Firma Bat’a nach dessen Tod zum Weltkonzern ausbaute.)
Ich liege in dem weißen Bett. Auf dem allzu gestärkten Laken. Es schneit. Von fern höre ich meine erste Geige, die kleine Fiedel, die Mutter einem Zigeuner abgekauft hatte. Auf dem schwarzen Geigenkasten sause ich den Hügel hinunter, der Kasten ist schön stabil und besser als der Schlitten, ich bin als Erster unten. Die Jungs machen eine Schneeballschlacht, überhäufen mich mit Schnee, wollen mich in eine Verwehung einbuddeln, und ich wehre mich und kriege kaum noch Luft. Es tut weh in der Brust. Lidka hat mir ein Glas Wasser gebracht und den Ventilator angestellt. Ein schweres Ding, das dunkel und unheilvoll brummt wie ein kleines Flugzeug. Wie unsere Lockheed Electra L-10 mit der Seriennummer 1091, Jahrgang 1937. Mit ihr bin ich als erster Tscheche um die Welt geflogen. Ich muss immer dorthin starren. Sehe den Ventilator und im nächsten Moment das Flugzeug. Ventilator, Flugzeug. Hin, zurück. Ventilator, Flugzeug. Hin, her. Her, hin. Das monotone Dröhnen der Motoren. Das Rattern der hölzernen Schaufeln. Die Hitze wird in einen Winkel verdrängt und kommt als Motorzündung zurück. Ich schaue an die Decke, überzeugt, dass das Monstrum auf mich herabfallen wird oder dass ich im nächsten Moment einsteige, den Sicherheitsgurt anschnalle und nach Hause fliege. Ich schwitze und gleich darauf fröstele ich. Vermutlich das Reisefieber. Es ist beruhigend, dass direkt neben dem Krankenhaus eine krumm gewachsene alte Dama da Noite steht. Die Dame der Nacht, ein Baum mit dichten kleinen Blättern und winzigen Blüten. Dona Marina Trachtová hat einmal gesagt, sie habe sie unter ihren Fenstern, weil ihr Duft Glück ins Haus bringe. Damals lag ich mit meinem ersten Infarkt in Batayporã, im Haus von Jindřich Trachta, in dem ich ein Büro besaß. Ich hatte mich hingelegt, weil mir übel geworden war. Nur Marina war da, Jindřichs hübsche Marina, immer lebhaft wie ein Eichhörnchen. Mir war hundeelend. Um mich herum schwankte alles, und mir war, als würde ich allein durch einen luftleeren Raum schweben. Die anderen flogen auch irgendwo herum, waren im Sägewerk, rodeten den Urwald oder erledigten Papierkram, und ich hielt Marina an der Hand fest und bat sie, nicht wegzugehen. Einen Arzt gab es dort natürlich nicht, im Urwald gibt es keine Ärzte. Marina versprach, bei mir zu bleiben. »Herr Bat’a, atmen Sie etwas von diesem Duft ein, das bringt Glück«, flüsterte sie. Nu, habe ich also eingeatmet, so tief es ging. Die Blüten der Dame der Nacht sehen aus wie eine Mischung aus Kaktus und Orchidee. Wenn sie aufgehen, verströmen sie einen berauschenden, penetrant süßen Duft in die Nacht und locken Scharen von Kolibris und Schmetterlingen an. Drei Tage später sind sie verblüht. Wie kommt es, dass sie jetzt blühen? Ist denn Frühling? Wie geht noch einmal dieses Liedchen? »Sogar die alten Weiber singen, wenn die Knospen wieder springen …« Was will mir die Dame der Nacht damit sagen? Dass heute ein guter Tag zum Sterben ist? Ich brumme vor mich hin, dass kein Tag zum Sterben gut ist. Als Lidka oder Maja in der Frühe die Fenster öffnet, umhüllt mich dieser Duft, legt sich schwer auf mich und trägt mich davon. Weit weg vom Krankenhaus in São Paulo, über den Ozean, zu einem anderen Geruch, dem von feuchter Erde und Frühjahrsschnee, wo ich nicht nach Atem ringen muss, sondern alles in großen Zügen aufsauge. Ich scheue mich nicht, dort Atem zu schöpfen. Und ich scheue mich nicht, dorthin zurückzukehren.
Zurückzukehren, um zu erklären. Um den Gerüchten, Lügen, Verschwörungen, kleinen und großen Wahrheiten etwas Neues, diesmal Eigenes hinzuzufügen. In den Mündern, den Schandmäulern der Leute bin ich ja schon alles Mögliche gewesen: ein Nazi, ein Jude, ein deutscher Jude, ein tschechischer Jude, ein gewöhnlicher Jude, ein schmutziger Slawe, ein Agent des Dritten Reichs, ein Deserteur, Vaterlandsverräter, Nestbeschmutzer, ein Gigant, Sündenbock der Kommunisten, der Schuhkönig, der Nachfolger, der Chef und jetzt offenbar auch noch der neuralgische Punkt der neueren tschechischen Geschichte. Sucht euch davon aus, was ihr wollt, aber ich kehre zurück, weil ich mich nicht damit abgefunden habe, dass Lidka und Edita und zuletzt Dolores euer ungerechtes Justizsystem anbetteln mussten. Ich rege mich schon wieder auf, und das sollte ich nicht, immerhin bin ich an einem Herzinfarkt gestorben. Ich will die ganze Geschichte noch mal in Ruhe Revue passieren lassen. Sie vielleicht in kleine Einzelteile zerpflücken. Dann wieder geduldig zusammensetzen, um zu sehen, ob sich die Stückchen so ineinanderfügen lassen, dass sie zusammenhalten. Ich will mir über die einzelnen Fäden klarwerden – und darüber frohlocken, weil ich schon jetzt weiß, welcher Hundskerl an ihnen gezogen hat. Will mir alles unter dem Vergrößerungsglas der Zeit anschauen. Und zu begreifen versuchen, warum ihr mich so lange nicht anhören wolltet. Warum ihr alles selbst erzählen wolltet.
(Tochter von Jan Antonín Bat’a)
Er war kreidebleich. Der wievielte Infarkt würde das jetzt sein? Dabei sah es erst gar nicht danach aus.
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