Präsident Dorticos: »Was hat sie über das Verhör erzählt?«
Botschafter Armas: »Man hat sie ein wenig ausgequetscht während der Vernehmung. Die Misshandlung erfolgte mit dem Ziel, sie unter Druck zu setzen, damit sie alles sagt, was sie weiß.«
Präsident Dorticos: »Was heißt das genau?«
Botschafter Armas: »Sie wurde an den Armen festgehalten und durchgeschüttelt.«
Präsident Dorticos: »Haben die etwas aus ihr herausgekriegt?«
Botschafter Armas: »Nein, absolut nichts. Vor allem wollten sie wissen, was für eine Art Beziehung sie und ihr Ehemann zu diesem Individuum hatten.«
Präsident Dorticos: »Hat sie etwas von Geld gesagt?«
Armas: »Nein, nichts, sie hat gesagt, sie sei nicht danach gefragt worden.«
Präsident Dorticos: »Wir haben von einem Genossen eine entsprechende Information bekommen ...«
Armas: »Sie hat mir gesagt, sie sei zu keinen weiteren Punkten vernommen worden.«
Präsident Dorticos: »Bitte fragen Sie sie noch mal und rufen mich dann gleich an.«
Armas: »Natürlich. Mache ich sofort, Herr Präsident.«
Bei einem zweiten Telefonat wenige Stunden später meldet der Botschafter, dass er noch einmal bei Silvia Durán nachgefragt habe.
Armas: »Ich habe mit dieser Person gesprochen. Sie hat nichts Wichtiges hinzugefügt. Was den speziellen Punkt betrifft, den Sie angesprochen haben: Es wurde ihr kein Geld angeboten.«
Präsident Dorticos (ungeduldig): »Das meinte ich doch nicht, Sie haben mich falsch verstanden. Ich will wissen, ob sie ausgesagt hat, dass dieser Amerikaner, na Sie wissen schon, in unserem Konsulat Geld bekommen hat, verstehen Sie? (... unverständlich) Besser, Sie schicken mir einen detaillierten Bericht.«
Armas: »Nein, nein, auf keinen Fall hat sie das gesagt. Beim nächsten Transport nach Kuba schicke ich den Bericht mit. « 8
Das Telefonat wirft neue Fragen auf: Wofür hat Lee Harvey Oswald in der kubanischen Botschaft Geld bekommen? Hat die mexikanische Geheimpolizei tatsächlich nicht mehr aus Silvia Durán herausbekommen, als im offiziellen Kommuniqué veröffentlich worden ist? Viele offene Fragen. Mauricio Laguna Bérber hält es für denkbar, dass es Akten des mexikanischen Geheimdienstes über das Verhör mit Silvia Durán gibt – und dass man sie vielleicht sogar einsehen kann. Denn unter der Regierung von Vicente Fox wurde ein neues und für Mexiko revolutionäres Informationsgesetz verabschiedet. Danach können die Opfer des Schmutzigen Krieges der Geheimpolizei, aber auch Forscher, ausgewählte und von der Geheimhaltung befreite Akten des mexikanischen Geheimdienstes DFS einsehen.
Das Generalarchiv der Nation war bis vor einigen Jahren ein Gefängnis, im Volksmund casa negra genannt – das schwarze Haus. Ein Ort des Grauens. Heute ist der alte Rundbau stilvoll renoviert. In den sternförmig vom kreisrunden Innenhof abgehenden Zellentrakten stapeln sich Dokumente aus der Geschichte des Landes. Einige Akten sind besonders gut eingesperrt, denn sie kommen aus dem Bestand des mexikanischen Geheimdienstes: Dokumente aus dem fast vergessenen Krieg der Geheimpolizei gegen die politische Subversion in den sechziger und siebziger Jahren. Diese Akten liegen in der von Wachmännern in schwarzen Uniformen bewachten Galerie I des Generalarchivs. Sie untersteht direkt dem Geheimdienst, der heutzutage CISEN heißt. Die Archivdirektion hat hier nichts zu sagen.
Das Kommando führt Vicente Capello, ein alter Vertrauter und Zögling des langjährigen Geheimdienstchefs Gutiérrez Barrios. Der korpulente und stets mürrische Offizier ist italienischer Herkunft – sein Vater, so munkeln seine Untergebenen, sei Leibwächter des italienischen Diktators Mussolini gewesen. Capello blickt uns aus seinen großen und milchigen Schafsaugen misstrauisch an und lässt zwei Kartons mit Dokumenten auf den Tisch stellen. Ein paar hundert Seiten unter dem Titel »Angelegenheit Lee Harvey Oswald«. Das meiste davon ist uninteressant: Zeitungsausschnitte von 1963, Observationsberichte. Aber dann entdecken wir ein paar Seiten mit einer vielversprechenden Überschrift: »Angelegenheit Lee Harvey Oswald – Silvia Tirado de Durán«.
Diese Seiten erzählen eine ganz andere Geschichte, als die, mit der uns Silvia Durán abgespeist hat. Zu unserer großen Überraschung ist in dem Papier von einem »Mordkomplott« des kubanischen Geheimdienstes gegen Präsident Kennedy die Rede, und davon, dass die mexikanische Staatsbürgerin Silvia Durán darin verwickelt sei.
Schon der einleitende Satz hat es in sich: »Wir wissen aus vertraulicher Quelle, dass Silvia Durán die Geliebte von Carlos Lechuga Hevia war, des ehemaligen castristischen Botschafters in Mexiko. Das Verhältnis ging so weit, dass die Frau des Botschafters die Scheidung einleitete.«
Dann listet das Geheimdienstdokument 39 Fragen auf, die Silvia Durán im Verhör gestellt werden sollten. Die Vernehmer wollten wissen, wie ihre Beziehungen zu kommunistischen Funktionären Mexikos waren, welche Tätigkeit sie im Sommer 1963 in der sowjetischen Botschaft ausgeübt hat und mit wem sie auf ihrer Reise nach Kuba Kontakt hatte. Dann folgen direkte Fragen zum Mordfall Kennedy:
»Wann hat Silvia zum ersten Mal von dem Komplott zur Ermordung des amerikanischen Präsidenten erfahren?
Wieviel Geld wurde dem Mörder gezahlt?
Seit wann arbeitet Durán für den kubanischen Geheimdienst?
Seit wann war die Durán damit beschäftigt, falsche mexikanische Pässe für Reisen von ›Studenten‹ anderer Nationalität nach Kuba zu beschaffen?
Identität der kubanischen Offiziere, die im Zusammenhang mit dem Komplott zur Ermordung von Präsident Kennedy geschickt worden sind?
Welcher dieser in letzter Zeit eingetroffenen Offiziere hatte Kontakt mit Oswald?« 9
Zwischen den Zeilen dieses Dokumentes öffnet sich ein politischer Abgrund: Oswald war nicht als harmloser Revolutionstourist unterwegs, sondern führte offenbar ein zweites Leben in der Schattenwelt der Geheimdienste. Wenn der mexikanische Geheimdienst wusste, oder zu wissen glaubte, dass Oswald Kontakte zum kubanischen Geheimdienst hatte, was wusste er noch? Wie viele Schätze liegen noch unter den Backsteinarkaden von Capellos Geheimarchiv? Wir stellen Antrag auf Einsicht weiterer Akten. Es wird Monate zähen Ringens mit den Behörden und mit der Leitung des Generalarchives kosten, bis wir in den Verliesen der Erinnerung ein paar weitere Schriftstücke einsehen dürfen.
Schon jetzt, gegen Ende der ersten Recherchereise, haben wir den begründeten Verdacht, dass Lee Harvey Oswald während seiner sechs Tage in Mexico City geheimdienstliche Kontakte zu Kuba hatte und dass er von kubanischen Funktionären Geld erhielt – sieben Wochen, bevor er in Dallas auf den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy schoss.
Mexiko ist die Büchse der Pandora. James Hosty hatte die richtige kriminalistische Spürnase. Wenn überhaupt, kann man hier das Rätsel »Oswald« lösen. Seltsamerweise hat das bislang noch niemand ernsthaft versucht: Kein Untersuchungsausschuss, kein Journalist und keiner der vielen Zeithistoriker der USA, die sich mit dem Thema beschäftigt und Dutzende von Büchern dazu veröffentlicht haben. Keiner von ihnen hat mit Zeugen wie Elena Paz Garro oder Oscar Contreras gesprochen, niemand hat auch nur geahnt, dass es brisante mexikanische Geheimdienstakten über Oswalds geheimes Leben gibt. Er war kein einsamer und autistischer loner, der ziellos durch die mexikanische Metropole irrte. Er war ein Mann mit Kontakten.
Lee Harvey Oswalds Geheimnis
Am letzten Tag der ersten Reise nach Mexiko gelingt dann ein unerwarteter Recherchedurchbruch: Zum ersten Mal treffe ich einen ehemaligen Offizier des kubanischen Geheimdienstes G-2. Er lebt seit Jahren unerkannt in Mexico City. Die meisten seiner Freunde und Verwandten wissen nicht, dass er früher Mitglied des kubanischen Geheimdienstes war. Ich habe über einen gemeinsamen Freund in Kuba Kontakt mit ihm aufgenommen. Nur deshalb hat er genug Vertrauen, um sich auf ein Treffen einzulassen.
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