Archi hob grüßend sein Glas, und während Alis Augen wärmer und zuversichtlicher blickten, nickte sie ihm zu. Dann sagte ihr Schwiegervater etwas zu ihr, so daß sie sich ihm zuwenden mußte. Von Belang schien es nicht zu sein. Jedenfalls verlor sich das Lächeln, und ihr Gesicht nahm den unpersönlichen Ausdruck konventioneller Höflichkeit an.
Als Gerda schließlich die Tafel aufhob, atmete Archi auf.
Endlich wurden die Flügeltüren zum Festsaal geöffnet, ein Leutnant von den zwölften Ulanen und ein Dragoneroffizier zogen sich eilig weiße Handschuhe an und übernahmen sozusagen das Kommando, das heißt, ihr Amt als Vortänzer. Das Orchester ließ die »Aufforderung zum Tanz« ertönen, um dann in die melodiösen Rhythmen des Faustwalzers überzuleiten.
Das junge Paar eröffnete den Ball. Gyllenfeld tanzte elegant, gelassen und in der festen Überzeugung, eine höchst brillante Figur zu machen; Ali war unter dem Kreuzfeuer der hundert Augen erst ein wenig steif und verlegen. Aber bald geriet sie ganz unter den Einfluß der Musik, ihre Bewegungen wurden weich und schmiegsam, sie vergaß all die vielen Menschen um sich her, und mit Temperament und der ihr eigenen natürlichen Grazie tanzte sie leicht und beschwingt den Walzer zu Ende. An den Gehtänzen, der Quadrille à la Cour und der Française, beteiligten sich auch die älteren Herrschaften: gemessen, gefühlvoll und mit ein wenig forcierter Grazie bewegten sie sich nach den Kommandos der Vortänzer, die sich bemühten, ihre Befehle in möglichst elegantem Französisch durch den Saal zu schmettern.
Endlich konnte Archi den Moment abpassen, Ali, um die die Herren sich rissen, zu einem Walzer zu holen. Nach der zweiten Runde schon flüsterte sie ihm zu: »Komm, Archi! Wir setzen uns irgendwo. Sonst komm’ ich überhaupt nicht dazu, noch ein bißchen mit dir allein zu sein.«
Nun saßen sie in einer stillen Ecke in einem der Nebenräume und wußten beide erst nicht so recht, was sie einander sagen sollten.
Schließlich fragte Archi: »Freust du dich auf eure Hochzeitsreise, Ali?«
»So schrecklich nicht, Lo will nach Italien. Mir liegt ei’ntlich nichts an Rom. Vielleicht, daß ich ihm Rom doch noch ausreden kann.«
»Wie lange bleibt ihr in Berlin?«
»Möglichst lange, wenn es nach mir geht.«
»Werden wir uns in Berlin noch mal sehen?«
»Das denk’ ich bestimmt.«
»Weißt du, Ali, dann wollen wir sehen, daß wir …« Er stockte, schien nicht recht zu wissen, ob er das, was ihm auf der Zunge schwebte, aussprechen sollte. Doch Ali half ihm gleich. »Ich weiß, glaub’ ich, was du sagen wolltest. Daß wir beide dann ein paar Stunden für uns allein haben wollen. War es das?«
»Offen gestanden, ja.«
»Siehst du, Archi! Natürlich, wir müssen uns noch mal allein haben!« sagte sie schnell. »Wir beide allein mit der Hanna. Wir essen mal abends irgendwo zusammen. Und dann sprechen wir über alles. Vom Vater und von Wiesenburg und von Karl und August und überhaupt …«
»… über alles. Auch von den Pferden und dem Wald und Barbknechts und Finks und über alles andere.«
Plötzlich standen ihre Augen voller Tränen. »Ach, Archi«, sagte sie, »wie dumm! Zu albern wirklich!«
In gemacht forschem Ton warnte er sie: »Heul nicht, Ali. Sonst fang’ ich auch an.« Nun begannen sie zu lachen, doch hinter diesem ein wenig gewaltsamen Lachen weinten sie um das, was gewesen war.
»Werden – wir – du und ich – auch in Zukunft immer zusammenhalten, Ali?«
Sie sah ihn fragend an. Was meinte er nur? Über etwas, was selbstverständlich war, was gar nicht anders sein konnte, brauchte man doch nicht erst zu sprechen. Statt ihm zu antworten, sah sie sich schnell nach allen Seiten um. Kein Mensch beobachtete sie. Dort hinten standen, ganz vertieft in ihr Gespräch, zwei Herren und rauchten wie die Kaminschlote. Mit einer kindlichen Bewegung legte sie den linken Arm um ihn, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn.
Nach einem mit den verschiedensten Geschäften ausgefüllten Vormittag hatte sich Harold Bancroft in das kirchenstille Lesezimmer seines Klubs zurückgezogen, wo er in einem der unwahrscheinlich bequemen Sessel vor dem Kamin mehr lag als saß, rauchte und einen Blick auf die Kaminuhr warf. Gleich halb eins. In zehn Minuten würde Archibald Barring hiersein, der heute von Deutschland eintraf.
Da Begrüßungs- und Abschiedsszenen in der Öffentlichkeit des Bahnsteigs dem englischen Empfinden nicht entsprechen, hatte Harold einen Diener zur Station geschickt, der Archi dort empfangen und zum Lunch in den Klub geleiten sollte. Sie wollten dann den Dreiuhrzug nach Bancroft Park nehmen.
Harold stand auf und schlenderte in die Halle hinüber, als auch schon Archi die Halle betrat. Ein wenig befangen sah er sich in dem großen, mit kostbarer Einfachheit ausgestatteten Raum um. Mit seiner ungewöhnlichen Länge fiel er selbst hier als groß auf. Er glich in seiner Erscheinung aber weniger einem zu schnell aufgeschossenen Jungen als einem schon ziemlich fertigen jungen Mann. Verhältnismäßig breit in den Schultern, schmal in Taille und Hüften und wohlproportioniert, hielt er sich gerade, aber sehr ungezwungen. Der Kopf mit dem vollen, links gescheitelten dunkelblonden Haar, dem hochgewölbten Hinterschädel war ausdrucksvoll und gut geformt. Die langbewimperten Augen wurden von hochgeschwungenen, dichten Brauen beschattet. Die kräftige Nase sprang ziemlich stark hervor. Ein weicher Zug um den schmallippigen Mund gab diesem ansprechenden Gesicht etwas Kindliches, das in diesem Augenblick unter dem Einfluß der Befangenheit besonders hervortrat.
Doch da kam auch schon ein ziemlich großer, in seiner Sehnigkeit fast mager zu nennender, glattrasierter Gentleman in dunklem Rock, schwarzer Krawatte und grauen, gestreiften Beinkleidern auf ihn zu, und eine nervige Hand umfaßte die seine. In Harolds ganzer Art lag etwas Kameradschaftliches, die Lage von vornherein Klärendes.
»Froh, dich zu sehen«, begrüßte ihn Harold Bancroft in stark englisch gefärbtem, doch fließendem Deutsch. »Ich hoffe, du hast eine angenehme Überfahrt gehabt?«
Archi fühlte sich erleichtert, daß er deutsch angesprochen wurde. Daß er mit seinem Schul-Englisch nicht sehr weit kommen würde, hatten ihn seine Erfahrungen auf der Überfahrt schon gelehrt.
»Vielen Dank, Onkel Harold«, sagte er, »es ging alles ganz gut. Einen Augenblick wurde mir so komisch im Magen, aber ich ging dann an Deck, und da war es bald wieder vorbei. Darf ich dir nochmals sehr für eure freundliche Einladung danken …«
»All right«, wehrte Harold ab, »wir werden eine angenehme Zeit haben, so hoffe ich.«
»Ich freue mich sehr darauf, bei euch zu sein, Onkel Harold«, sagte Archi mit Wärme. »Wie geht es Tante Gisa?«
»Oh, sie freut sich auf dich. Wir haben einen Freund bei uns, deine Tante wollte ihn nicht gern allein lassen. Sie hätte dich sonst auch abgeholt. Entschuldige mich einen Augenblick, bitte …«
Er wandte sich an den Diener, der im Hintergrund wartete.
»Besorgen Sie das Gepäck zum Dreiuhrzug zur Station, Matthew.«
Der Mann verschwand.
»Ein Landsmann von dir ist bei uns, der Baron Kettelried«, erzählte Harold, als sie in ihrem Abteil erster Klasse auf der Fahrt nach Bancroft Park saßen und er sich seine Pfeife stopfte. »Ich sagte schon, daß deine Tante ihn nicht gern allein lassen wollte! Der Arme ist nämlich blind. Vor vierzehn Jahren hat er das Unglück gehabt, das Augenlicht zu verlieren.«
»Wie schrecklich! Blind – das muß doch das Schwerste von allem sein.«
»Oh, schrecklich natürlich! Aber Adrian Kettelried trägt sein Unglück bewundernswert. Er genießt das Leben auch jetzt noch. Niemand könnte denken, daß er es nicht täte. Er ist unterhaltend und heiter und liebt Geselligkeit. Wir sind alte Freunde. In jedem Jahr ist er längere Zeit bei uns.«
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