Was kommt von meinem Vater, wollte meine Mutter wissen.
Deine feindliche Einstellung. Ich weiß nicht, mit wem du sonst noch schwätzt im Flecken. Doch ich weiß es schon. Ich habe dir schon lange gesagt, du sollst in den Frauenbund eintreten.
Ich? Fällt mir nicht ein! Da sind die Behrs drin und noch so ein paar, die ich sowieso nicht leiden kann.
Es geht in dieser Zeit des nationalen Umsturzes überhaupt nicht darum, ob man jemand leiden kann: wir haben alle nur eine Aufgabe, dem Führer zum Sieg zu verhelfen. Deswegen stehe ich auch an der Front, schloß mein Vater seine Rede.
Meine Mutter schien darauf gewartet zu haben und entgegnete:
Ja, mit deinem Seckel stehst du an der Front: in Frankreich – und immer hinten herum!
Meine Mutter war in Fahrt, und wenn sie einmal in Fahrt war, dann gab es für sie kaum einen Halt. Das wußte der Alte, und wenn er sich nicht mehr anders zu helfen wußte, schmiß er ihr einen Gegenstand aus dem Haushalt an den Kopf – oder einfach an die Wand oder an die Tür, der Narrete!
Jetzt war es gleich wieder soweit. Aber mein Vater hatte vorher noch etwas zu sagen, nämlich:
Da werden auch Leute gebraucht. Überall werden Leute gebraucht. Und alle Leute. Auch du.
Ich denke nicht daran, das habe ich dir schon hundertmal gesagt. Dein Frauenbund samt deinem Hitler können mir gestohlen bleiben, das sage ich aus mir selber heraus, und nicht von meinem Vater oder von anderen Leuten her. Du kannst ja kämpfen, du bist doch ein »Alter Kämpfer« und kämpfst auch und kämpfst – hoffentlich gewinnst du auch mal etwas für dich!
Weib! schrie mein Vater, nochmal wie zur Warnung: ich habe gesagt, ich darf das nicht hören als SA- und als SS-ler; ich habe einen Schwur getan.
Pah! machte meine Mutter.
Ja, ja: pah! Hör auf, sage ich, sonst bringe ich dich doch noch dahin, wo die andern sind, drohte jetzt mein Vater.
Aha! schrie meine Mutter: Jetzt ist es wieder raus.
Du hast mich dazu gezwungen.
Ich dich gezwungen? Wir wollten mitnander über den Buben schwätzen; er kann nicht in die Schule; er wird zurückgestellt, weiß ich, wie lange – vielleicht geht er überhaupt nicht in die Schule. Wir müssen ihn beschäftigen.
Er soll sich selbst beschäftigen, erklärte mein Vater.
Das sagst du so; du bist ja die meiste Zeit nicht da. Der Amtsarzt sagt: dem Karl fehlt manchmal die Verantwortung – fast so wie euch!
Die letzten Worte hatte mein Vater sicher nicht mehr gehört – wozu sollte er auch? Er kannte sie auswendig.
Denn noch während meine Mutter sprach, hörte ich ihn schon die Stiege hinabsetzen.
Ich rannte zum Fenster, da sah ich ihn: mit festem Schritt und Tritt ging er die Gasse hinab. Bestimmt zitterten jetzt links und rechts in den Häusern die Gläser und Tassen auf den Tischen. Einen solchen Tritt habe nur einer, nämlich der Simpel-Helm! Genauer gesagt, sei es der Hahn-Tritt seiner mütterlichen Vorfahren: die hätten schon so die Füße auf den Boden gesetzt, daß die Welt erzitterte und man sie schon von weitem hörte.
Bestimmt ging er jetzt in den »Adler«, in den »Löwen«, in die »Traube« – seltener in den »Grünen Baum« – oder in das »Waldhorn«, das am nächsten war. Natürlich konnte er auch in die »Linde« gehen, das Stammlokal seiner Partei. Da kam auch noch der »Stern«, der »Anker«, die »Kelter«, das »Rössle« und das »Faß« in Frage. In allen diesen Wirtschaften hatte ich ihn schon im Auftrag meiner Mutter zu suchen, und zum Teil lagen sie weit auseinander, und es kam dann eine ganz schöne Strecke Weges zusammen.
Und bestimmt haute er jetzt dort auf den Tisch und brüllte, daß er sich das nicht mehr gefallen lasse oder so ähnlich. Vorher brauchte er aber noch einige Bier; von Most wollte er in der Wirtschaft nichts wissen.
Im Moment wußte ich wirklich nicht, was weiter mit mir anfangen, und es wäre mir schon recht gewesen, wenn mich jemand beschäftigt hätte. Aber meiner Mutter fiel nichts anderes ein wie zu sagen: Geh jetzt rauf. Wir vespern gleich. Ich muß vorher aber noch in den Stall. Ich schrei dir dann.
Ja, sagte ich, machte auf dem Absatz kehrt und verzog mich in meinen Verschlag auf der Bühne.
Karl der Funkenschläger oder Wilhelm der Dofe
Ich hatte natürlich auch Stiefel, schwere Apparate mit dikken Sohlen, und die Sohlen voller Nägel; die Sohlenspitzen und die Absätze waren zusätzlich noch mit Eisenblättchen gesichert. Damit ließ sich schön über das Straßenpflaster schlagen, daß die Funken nur so stoben. Oft ging ich kurz vor Einbruch der Dunkelheit nur deshalb nochmal aus dem Haus, um die Funken sehen zu können. Und weil ich das so oft und so gerne tat, hieß man mich im Flecken schon lange »Karl den Funkenschläger«.
Das machte mir aber nichts aus. Der Name war immer noch besser wie Roßboll (so hieß ich auch eine Zeitlang, weil ich im Flecken alle Roßbollen und Kuhfladen mit einem Leiterwägele einsammelte und den Leuten dann für ihre Gärten oder Komposthaufen verkaufte) oder Käsreiter, wie die Kinder auch einen nannten – oder wie »Wilhelm der Dofe«. So sagten sie zu meinem Vater. Das hängt mit seiner Partei oder der SA zusammen.
Die müssen mal zusammen eine Wanderung in die umliegenden Wälder gemacht haben – eine Nachtübung, wie das hieß –, und mein Vater muß der Anführer der Gruppe gewesen sein. Es gab dann noch weitere Gruppen, und sie alle sollten sich an einem bestimmten Punkt in der Landschaft treffen.
Aber mein Vater muß da mit seinen Männern nicht hingefunden haben; muß einen anderen als den vereinbarten Ort erreicht haben, weshalb dann danach der Spottvers »Wilhelm der Dofe, der (statt nach XY) nach Seeberg gelofe« aufkam. Es ging mich nicht direkt etwas an; aber ich meine, mein Vater hätte da schon hinfinden müssen. Da kannte ich mich ja besser in der Gegend aus als er!
Droben am »Waldhorn« an der Hausmauer zur Straße war so eine Gestalt auf einem Plakat: ein Schatten mit hängender Schulter. Darauf stand: »Feind hört mit!« Oder wars der »Kohlenklau?« Der sah so ähnlich aus.
Weil ich die Sache nicht verstand, habe ich meine Mutter gefragt: Du, wer ist eigentlich unser »Feind«? Und dann habe ich alle Leute auf der Straße gefragt: He, wer ist eigentlich unser Feind? Ich hab doch gar keinen Feind. Aber ihr. Wer ist das? Wie heißt der? Wo wohnt der?
Den Ortsgruppenleiter habe ich nicht gefragt, der hat aber erfahren, daß ich den Leuten auf der Straße solche Fragen stelle, und kam eines Tages zu uns ins Haus und fragte meine Mutter: Maria, dein Karl fragt da so Sachen auf der Straße rum – woher hat er das?
Von mir nicht, antwortete meine Mutter. Und: Fritz, du weißt, mein Karl ist verrückt, deswegen geht er auch noch nicht in die Schule, und in diesem Zustand fragt man vielleicht so etwas. Ich habe es ihm längst verboten, aber er folgt scheints nicht.
Na, sagte der Ortsgruppenleiter; ich habs nur gesagt, ich will auch gar nichts gehört haben, fügte er hinzu und dampfte ab. Er war ohne Uniform gekommen, denn er war in der Hauptsache Bauer, und jetzt auf dem Weg ins Feld, da wollte er das auch geschwind erledigen.
An dieser Stelle gibt es wieder einen Einschub oder Einschaltung des Schriftsteller-Kommissars Rudolf Maier in den ohnehin recht locker gestalteten Aufzeichnungen zum »Fall Simpel«. Maier berichtet immer wieder – wenigstens hat es den Anschein – über den Verlauf des Verhörs im Stuttgarter Polizeigefängnis 1948. Er scheint nicht gerade begeistert zu sein von dieser Geschichte , und am liebsten hätte er den Fall wieder abgegeben. Aber er mußte ihn zu Ende fuhren, so lautete der Bescheid von oben.
Die Unzurechnungsfähigkeit des Buben war ja festgestellt. Trotzdem wollte man seine Aussagen haben, bevor er in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde. Also doch Zwiefalten, da hatte seine Mutter recht gehabt. Oder Winnenden.
Читать дальше