Nein, und morgen auch nicht. Ich will erst ausschlafen. Aber übermorgen gehen wir zum Ähne, der Karl geht mit.
Ja, ich geh mit.
Es ist doch alles meine Heimat, die habe ich draußen so vermißt, grübelte er. Wir können ja morgen drüber schwätzen, was hier los ist, jetzt muß ich aber ins Bett. Der Arm tut wieder weh; morgen müssen wir auch meinen Koffer vom Bahnhof holen, da hats noch mehr Geschenke für euch drin, das hier ist ja bloß meine Tasche. Ach, der Karl hat sie ja schon umgedreht. Hast du etwas gefunden?
Ich hatte etwas gefunden: Schokolade, sagte ich.
Noch einen Krug Most kannst du mir bringen, bevor ich ins Nescht gehe; da draußen gibts auch keinen Most, die wissen gar nicht, was das ist.
So dabfer ging er also dann doch nicht ins Nescht; erst trank er einen Krug Most, dazu vesperte er einen gebratenen Leberkäs mit Spiegelei, dann trank er noch einen Krug Most. Dazwischen erzählte er und erzählte von seinen Erlebnissen in Frankreich, Belgien und Holland.
Doch da mußte ich nach oben; meine Mutter kam mit rauf und wartete, daß ich auch richtig betete: Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu . . .
Ich schlief aber an diesem Abend schwer ein: immer sah ich meinen Vater vor mir, wie er seinen blutenden rechten Arm in die Höhe hielt . . .
Daneben meine Mutter. Sie weinte und schrie immerzu: mein Vater solle doch endlich seinen Arm herunternehmen, da käme doch kein Blut in die Finger, und der Arm würde absterben, wenn er ihn noch lange so hoch halte.
Aber mein Vater hörte nicht auf sie; im Gegenteil, je mehr sie schrie, desto höher hielt er den Arm, bis er schon hinter dem Kopf war. Plötzlich fiel der Arm herab, fiel wie ein abgesägter Ast vom Baum: mein Vater hatte den Arm verdreht, hatte ihn ausgekugelt.
Aber komisch: jetzt floß gar kein Blut mehr. Der Arm war ganz weiß, und die Finger waren weiß, der Ellbogen; der Oberarm, der Unterarm – komisch: da war gar keine Binde mehr drum herum.
Mein Vater war plötzlich verschwunden, hatte seinen Arm alleine gelassen, und ich trat jetzt vor diesen Arm undbetrachtete ihn, völlig gefühllos; ich fürchtete mich nicht – ich war nur neugierig, was jetzt geschah.
Aber es geschah nichts. Ich war allein.
Da begann ich nach und nach meine eigenen Glieder zu betrachten: aber da geschah auch nichts. Es war alles still, auch hatte ich keinerlei Bedürfnis nach einer Bewegung. Im Gegenteil: es sollte alles so bleiben, wie es war; so gefiel es mir am besten.
Aber dann geschah doch etwas; Wind kam auf, und der wehte eine Hakenkreuzfahne heran, direkt über den abgesprungenen Arm meines Vaters – und deckte ihn zu. Dann war es wieder still. Und dann wachte ich auf.
Wann wir jetzt zum Bahnhof gingen, fragte ich meinen Vater. Ich mußte unbedingt an sein Bett. Ja, er lebte noch, war inzwischen auch wach, aber noch ein wenig mürrisch. Der verbundene Arm lag auf der Bettdecke. Meine Mutter war natürlich längst bei der Arbeit, war im Stall, hatte gemolken, gemistet und gefüttert. Jetzt öffnete sie die Kammertür: wir können Kaffee trinken, wenn ihr wollt, sagte sie.
Wann holen wir deinen Koffer, Babba, sagte ich und begann seine Füße zu kitzeln.
Das hatte ich immer schon gern gemacht: meine Eltern an den Füßen gekitzelt. Sie ließen es sich gefallen und hatten vielleicht auch ihren Spaß dran.
Nach dem Kaffee, sagte mein Vater zu mir. Und zur Mutter: Hast du gesehen, ich habe Kaffee mitgebracht.
Habe ich gesehen und schon gekocht.
Also stehe ich auf.
Prima! Ich begann einen Freudentanz aufzuführen. Wirklich warf mein Vater die Decke von sich und setzte seine Riesenfüße auf den Bettvorleger. Meine Mutter hatte wieder die Kammertür hinter sich zugemacht.
Jetzt, Bub? fragte mein Vater.
Gehen wir nachher gleich zum Bahnhof? Wir nehmen das Leiterwägele, da geht dein Koffer doch drauf?
Ja, ja; gib mir jetzt meine Unterhose, bruttelte mein Vater.
Und nach dem Kaffee machten wir uns wirklich mit dem Leiterwägele auf den Weg zum Bahnhof, mein Vater und ich. War das ein Gucken und Angegucktwerden. Ich hatte freilich mein Vergnügen daran, mein Vater weniger. Der trieb mich immer an: Komm, schneller, sagte er.
Was hats gegeben, fragten die Leute.
Eine Verwundung, nichts Schlimmes.
Hast jetzt Urlaub, wurde gefragt.
Ja, sagte mein Vater.
Es waren hauptsächlich Weiber und alte Männer, die fragten oder um die Zeit unterwegs waren. Ich wußte, daß ihm das zuwider war, und manchmal zeigte er auch seine Abneigung. Endlich kamen wir auf dem Bahnhof an, luden den Koffer auf das Leiterwägele und fuhren wieder heim. Natürlich zog ich am Deichsel, darauf war ich besonders stolz; mein Vater lief einige Meter vor mir her, grüßte links und rechts, oder sah zu Boden. Immer aber mit festem Schritt und Tritt, so wie es seiner Herkunft entsprach.
Nicht anders war es am nächsten Tag, als wir zu meinem Ähne liefen. Diesmal ohne Leiterwägele oder sonstigem Gepäck. Mein Vater trug außer dem Arm in der Schlinge nichts, und ich nur meine Kleider.
Doch mein Vater lief wieder voraus, auch als es den Berg hinaufging, und als ich zu rennen begann. Mein Vater hatte keine Angst vor Bergen und Steigungen. In seiner Jugend war er einmal Radrennen gefahren, Bergrennen, und hatte dafür Pokale bekommen. Die standen jetzt in der Stube auf dem Büfett. Lange Zeit hatte ich nicht gewußt, was das war, bis es mir meine Mutter erklärte.
Er war also immer noch in Übung, trotz des Armes in der Schlinge. Es war schönes Wetter, und wir betraten endlich die Ebene des Ortes, in dem mein Ähne und meine Ahne wohnte – sie zu besuchen, deswegen hatten wir ja den Weg auf uns genommen! Es war am Mittag nach dem Essen. Es waren nicht viel Leute auf der Straße – noch weniger als bei uns im Flecken, da dieser Ort ja viel kleiner war als der unsre. Nur wieder Weiber und ältere Männer, die sich aber schnell wegdrehten. Und ein Gefangener. Der trat im ersten Weiler, in dem mein Ähne wohnte, gerade aus dem Haus und lachte meinen Vater an, so erklärte es wenigstens mein Vater kurz danach, und zwar lachte er meinen Vater so an, daß es dieser wie auslachen empfinden mußte.
Nun war ich vorausgerannt, blieb aber stehen, als ich plötzlich Geschrei hörte. Auch mein Vater war stehengeblieben, und zwar vor einem Haus, in dem einer der wenigen Gefangenen dieses Ortes untergebracht war.
Der hat mich ausgelacht, hörte ich meinen Vater schreien. Was hat der, fragte die Frau.
Der hat gelacht, sagte mein Vater und steuerte auf den Gefangenen zu, der nun nichts mehr sagte und auch keine Miene mehr verzog, sondern nur auf den Boden blickte.
Man wird doch wohl noch lachen dürfen, versuchte es die Frau nochmal im Guten. Sie kannte meinen Vater, und er kannte sie.
Aber er hat mich ausgelacht, beharrte mein Vater. Das lasse ich mir nicht gefallen; ich bin Soldat und bin an der Front verwundet worden, und darüber lacht der Kerl; er freut sich wohl. Und außerdem bin ich SS-Angehöriger, darüber lacht man nicht.
Das sehen wir doch, wer du bist und was du bist.
Mein Vater war nicht zu bremsen; er machte plötzlich einen Satz und schlug dem Mann mit der Linken ins Gesicht, daß ihm der Kopf herumflog: Das Schwein hat einen SS-Mann beleidigt.
Jetzt hörst aber auf! Die Frau stellte sich vor den Mann, der keinerlei Anstalten machte zu fliehen oder sich zu verteidigen; es war offenbar ihr Gefangener: er arbeitete für sie – und vielleicht war ihr Mann, ihr Vater oder Bruder auch im Krieg, und deshalb hatte sie diesen Gefangenen für die Arbeit auf dem Feld und im Stall bekommen. Du rührst den Mann aber nicht mehr an; er ist bei mir zum Schaffen, und er macht seine Sache ordentlich.
Der soll froh sein, daß ich ihn nicht anzeige; dann bist du mit ihm dran, wenn du ihn auch noch in Schutz nimmst, du Hure! wetterte mein Vater weiter, er war aber wieder vom Hof heraus auf die Straße gegangen, wo ich immer noch auf ihn wartete. Es war nur noch einige hundert Meter zu meinem Ähne; wir hatten keine Ahnung, ob er überhaupt daheim war. Aber dann würden wir ihn auf den Feldern suchen: wir wußten ja, wo er seine Äcker und Wiesen hatte, zumindest wußte ich es, da ich ja oft genug mit ihm dort war zum Ackern und zum Kirschen und Äpfel heruntertun.
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