Der Erzählerstandpunkt wechselte: so berichtete er einmal in der Ich-Form und dann wieder in der dritten Person »Er«. Wenn er den Fall am liebsten wieder abgegeben hätte, dann aus zweierlei Gründen: einmal tat ihm der Karl leid, zum anderen hielt er die Verhöre für unnötig. Sie brachten im Grunde niemand etwas. Höchstens ihm privat für seine Schriftstellerei. Aber nicht irgendeiner Behörde. Die beiden Nazis waren tot, und vielleicht hatten sie es verdient. Und wenn sie es verdient hatten und blutige Hände hatten, dann mußten sie ihre Strafe bekommen: von den Gerichten, von der Gesellschaft, jedenfalls von normalen Leuten und von keinem Dackel.
Doch wenn von denen zu dieser Abrechnung keiner nach dem Zusammenbruch und später in der Lage war, dann mußte halt so ein Dackel kommen, von dem man bis jetzt immer noch nicht wußte, ob er wußte, was er tat!
»Kommen wir jetzt endlich zur Sache, Simpel!« schrie Maier. Er wollte noch mehr aufbrausen, da fing er einen Blick seiner Sekretärin an der Schreibmaschine auf, und riß sich zusammen.
»Zur Sache, sagte ich!«
»Zu was für einer Sache, Herr Kommissar?« Manchmal wußte man bei Simpel wirklich nicht, wo man dran war – war es wirklich ein Dackel oder tat er nur so? Jetzt zum Beispiel dieses Grinsen . . . das zerrte doch ganz schön an den Nerven. »Wie moinet Sie des?« Das war eine Lieblingsfrage des Buben. »I moin des so«, begann Herr Maier ganz ruhig und von vorne: »Warum hast du damals die beiden Männer erschossen? Einfach kaltblütig abgeknallt, ha? Du drückst dich dauernd herum, wie die Katze um den heißen Brei.«
»Katze?« fragte Simpel. »Und um den heißen Brei? Aber das muß man doch, den Brei etwas stehenlassen, wenn er heiß ist, sonst verbrennt man sich die Labbel. Ich hab mir schon paarmal die Labbel verbrannt, als Kind, seitdem lasse ich den Brei stehen, bis er kalt ist. Ich weiß, von was ich schwätz; ich eß gern Brei, es ist mein Lieblingsessen. Schade, daß es hier so wenig Brei gibt . . .«
»Wenn du mir sagst . . . Ach, was! Du kriegst Brei, wenn du willst. Der hat aber gar nicht viel Kalorien, und die brauchst du jetzt!«
»Sie sind so gut zu mir, Herr Maier, wie mein Vater, wenn er gut zu mir hätte sein wollen. Aber ich weiß wirklich nichts . . . Sie wollen mich doch nicht zwingen?«
»Überhaupt nicht, Simpel!«
»Ich sag doch schon die ganze Zeit die Wahrheit: Punkt für Punkt; es war da ein innerer Befehl, und ich mußte abdrücken, wenn sie das meinen?«
»Ja, das meine ich.«
»Aber mehr weiß ich nicht. Haben Sie mir jetzt einen Brei? Einen Löffel hätte ich. Und auch eine Gabel. Das Messer ist noch in der Zelle. Da!« Simpel griff in beide Hosensäcke und legte einen Löffel und eine Gabel auf den Schreibtisch. Der Kommissar fuhr wie von einer Wespe gestochen von seinem Stuhl hoch, auch die Sekretärin erschrak.
»Wo hast du das her? Was, ein Messer hast du auch? Fräulein Schmidt, rufen Sie an, die sollen sofort nachschauen. Gib die Sachen her.«
Man hatte Karl nach der Einlieferung hier alles abgenommen: Taschenmesser, Hosenträger, Schuhbändel – Löffel und Gabel gabs mit dem Essen; sie mußten mit dem leeren Teller wieder abgegeben werden. Aber Simpel hatte sie noch; er hatte sie nicht abgegeben oder sie irgendwo mitlaufen lassen.
»Du darfst die Sachen nicht behalten«, erklärte Maier gutmütig; »du könntest dir damit etwas antun, so wie den zwei Männern.«
»Damals hatte ich doch ein Gewehr; ich erschieß doch niemand mit einer Gabel oder einem Löffel.«
Maier faßte nach: »Hast du jemand mit dem Gewehr erschossen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Simpel. Widerstandslos ließ er sich das Besteck abnehmen.
»Wir machen für heute Schluß, Fräulein Schmidt«, sagte der Kommissar unvermittelt.
»Isch recht, Herr Maier! Noch des letzschte Täßle Bohnakaffee – vo onsre Sieger?«
»Aber gern! Des Raucha ischt doch ungesund, wenns jetzt auch wieder Tabak und Zigaretten gibt.«
»Für Sie!«
»Für mich?«
»Jedenfalls net für alle!«
»Ach so! Jo, das kann stimmen. – Simpel«, wandte sich der Kommissar wieder an den Buben, der regungslos auf seinem Stuhl saß. Er schien nichts zu hören und nichts zu sehen. Doch nun horchte er auf.
»Ha?«
»Simpel – wir machen Schluß für heute. Nur noch eine Frage – die habe ich dir schon paarmal gestellt, aber nie hast du mir eine richtige Antwort drauf gegeben: Hast du gewußt, daß der Bürgermeister in der Hütte war?«
»Ha, des hot doch dr ganz Flecka gwißt! Sie kennet naufganga ond frooga, wenn Se mir et glaubet.«
»Dann bist du also extra da hingegangen . . .?«
»Noi.«
»Was noi?«
»I bin et extra do nooganga; dui Hütte ischt uff oimol doogschdanda.«
»Simpel! . . .« Der Kommissar wollte sich grad wieder aufregen, da besann er sich, was er gesagt hatte: nämlich daß für heute Schluß sei. »Gut! I schell jetzt; no kommt jemand ond bringt dich auf dei Zelle. Du kennscht die Leut?«
»I kenn die Leut; Sie brauchet sich koine Sorga macha.«
Der Bub wurde geholt. Auch Fräulein Schmidt war gegangen. Der Kommissar war allein im Zimmer und brütete. Dem Simpel ging es gut; er bekam regelmäßig Besuch von seiner Mutter – nicht vom Vater! Der kümmerte sich offenbar nicht um ihn, so wie Karl eines Tages nicht mehr nach ihm fragte. Es war ihm gesagt worden – von seiner Mutter und von anderen –, daß er noch in dem Dorf am Fuße der Schwäbischen Alb lebe, im gleichen Haus, nach der Scheidung im gleichen Jahr, 1948, kurz vor der Tat; er wolle ein Geschäft anfangen, ein Baugeschäft und wohl auch wieder heiraten, und zwar das gleiche Weib, mit der er es schon im Krieg gehabt hat. Draußen an seinen vielen Fronten – hinter der richtigen Front! Die Mutter wohntejetzt mit Karls Schwester beim Ähne und beider Ahna in dem Flecken auf der Höhe. Aber das war kein Zustand auf die Dauer.
Nein, Karl ging es gut; er bekam genug zu Essen – ohne das, was ihm seine Mutter jedes Mal mitbrachte –, und er durfte auf den Hof runter und kicken: man stelle sich vor, mit einem richtigen Fußball, Lederfußball, den ihm ein Wächter geschenkt hatte, und der kickte auch ab und zu mit ihm. Oder andere.
In den nächsten Tagen erzählte Simpel wieder:
So ein schwäbisches Haus besteht ja nicht nur aus Scheuer, Schopf, Kuhstall, Hühnerstall, Kammer, Küche, Stube und Bühne. Außer dem Kuhstall und dem Hühnerstall gibt es auch noch den Laubstall. Wir hatten so einen, und mein Ähne hatte so einen.
Unser Laubstall lag neben der Waschküche zwischen Hühnerstall und Kuhstall; beide Räume wurden später zu einem Bad und einem zusätzlichen Zimmer umgebaut.
In diesen Laubstall kam das Stroh und das Laub, das im Frühjahr von den Wiesen abgerecht wurde; auch richtiges Waldlaub – Buchenlaub – war darunter, denn mein Ähne hatte auch eigenen Wald, aus dem wir im Herbst das Laub holten. Nach und nach wanderte dieses Laub und das von den Wiesen abgerechte Stroh in den Kuhstall, wo es den Kühen gestreut wurde. Auf diese Weise wurde es wieder Mist und machte zwei-, dreimal diesen Kreislauf Kuhstall – Laubstall; Laubstall – Kuhstall. Vor nichts habe ich mich in unserem Haus und in dem Haus von meinem Ähne so gefürchtet wie vor dem Laubstall. Da war es immer dunkel, und es hieß, da seien Ratten drin. Aber warum sollten da Ratten drin sein? Bei meinem Ähne war der Laubstall stets bis unter die Decke angefüllt, und man fiel da so weich, wenn man sich da hineinstürzte.
Ja, wenn man sich verstecken wollte, dann war man im Laubstall am sichersten. Aber es konnte einem auch passieren, daß man die Gabel in den Ranzen gesteckt bekam. Eine Gabel steckte immer im Laub, und wenn einer Stroh holte, dann riß er die Gabel heraus und stach sie wieder hinein. Natürlich machte man das auch so aufdem Heu- und auf dem Strohbahrn. Aber das war etwas anderes. Um auf den Heu- oder Strohbahrn zu kommen, mußte man erst über die Leiter nach oben steigen. Was machte das für einen Unterschied?
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