Vielleicht deshalb die Geschichte mit den Ratten? In den Laubstall konnten die Ratten leicht gelangen, da brauchten sie nur durch die Scheuer oder aus dem Garten herein kommen. Aber hatte man schon gesehen, daß Ratten eine Leiter hinaufsteigen konnten? Das mochte es geben und gegeben haben. Doch meine Eltern, mein Ähne und ich hatten es nicht gesehen; das war unser Trost.
In dem Übergang zwischen Scheuer und Laubstall stand die Futterschneidmaschine, und so vermischten sich in diesem Bereich auch Laub, Heu und Stroh, das vom Bahrn gelassen wurde, im Sommer mit Gras und Klee.
Ich höre immer noch meine Schwester schreien, die ich einmal in den Laubstall bei uns gesetzt hatte – nur um auszuprobieren, ob es da wirklich Ratten gab: ich würde ja nachher sehen, ob sie meine Schwester angefressen hatten. Aber nichts war passiert. Sie schrie nur so, als ob die Ratten an sie gegangen wären. In solchen Augenblicken wünschte ich mir, daß der Spitzer noch da wäre: ich hätte ihn vorher in den Laubstall geschickt, dann wäre ich nachgekommen. Denn ich hätte, wenn feststand, daß es da keine Ratten gab, nirgends lieber sein wollen als im Laubstall.
Es gab da noch einen Ort, der nicht nur mir, sondern allen Kindern Angst einjagte. Das war das Gespenster- oder das Hexenhaus in dem Dorf von meinem Ähne.
Das Haus stand seit ich denken konnte leer, praktisch war es das einzige verfallene Haus im Dorf und zog schon deshalb die Aufmerksamkeit von uns Kindern an.
Wir sagten Gespenster- oder Hexenhaus dazu, obwohl niemand von uns je ein Gespenst oder eine Hexe darin gesehen hatte.
Es stand am Rande der Siedlung gegen den Berg; die Bewohner, eine alte Frau und ein alter Mann, waren vor einiger Zeit gestorben, danach wollte niemand mehr hinein.
Und so wurde ein Fenster um das andere eingeworfen, eine Tür um die andere eingedrückt und Stiege nach Stiege zerschlagen. Das trauten wir uns noch: Fenster und Türen einzuschlagen, weiter mochte keiner von uns gehen. Und so waren schon bald die tollsten Gerüchte im Umlauf: es gäbe da einen unterirdischen Gang, und wer da ins Haus hereinkäme, der fiele gleich hinunter in den Keller, wo die Geister auf ihn warteten.
Auch wenn viele daran zweifelten – auch ich –, so wollte es doch niemand auf einen Versuch ankommen lassen. Es blieb dabei, daß wir das Haus mit Steinen bombardierten und wußten, daß niemand mehr darin wohnte – außer vielleicht Gespenster und Hexen. Aber um sie war es ja nicht schad, wenn sie von einem Stein getroffen wurden.
Ich wußte sehr wohl wie Hexen aussahen; unten im Tal waren zwei, ganz in der Nähe von unserem Haus. Das waren zwei altledige Weiber, und zu ihrem Haus sagte man auch Hexenoder Storchenhaus. Das waren zwei hochgewachsene, dürre Damen, die sich aus allem Geschehen im Flecken raushielten und nur in ihrem Haus und von der kleinen Landwirtschaft lebten. So sah man sie öfters mit dem Handwagen oder dem sogenannten Räuberkarren herumfahren. Damit holten sie ihr Gmüs von den Feldern oder Gras und Heu für ihre Geißen.
Auch diese Weiber haben wir genarrt. Aber das war etwas anderes. Nie haben wir bei ihnen Fenster eingeworfen oder Türen eingeschlagen. Wir haben ihnen auf der Straße höchstens nachgeschrien; aber das war schon gefährlich genug. Denn wer wußte, ob sie uns nicht nachts erschienen: als Hexen und Gespenster. Ihr Haus war ja auch schon so eingerichtet: schmal und von der Straße etwas zurückversetzt. Von einem Winkel führte eine hölzerne Stiege nach oben zur Haustüre.
Jenes Gespenster- oder Hexenhaus in dem Dorf von meinem Ähne wurde eines Tages doch abgerissen und das Gelände von einem Bagger eingeebnet, das war schon eine Enttäuschung, nicht nur für mich, sondern für alle Kinder: jetzt waren die Geister hin und niemand konnte mehr nachprüfen, ob sie wirklich gelebt hatten. Sie hatten uns Angst gemacht, das mußte genügen.
Nicht, daß wir uns nicht gefreut hätten, meine Mutter, ich und meine kleine Schwester, wenn mein Vater Urlaub hatte und heimkam.
Er brachte auch immer für jeden etwas mit – von seiner Front in Frankreich, Belgien und Holland! Meiner Mutter hatte er es vorher geschrieben, wenn er kam, und meine Mutter hatte es mir dann auch gesagt.
Aber ich war dann doch jedesmal sehr überrascht, weil ich seine Ankunft vergessen hatte.
Wenn ich drandachte, ging ich zum Bahnhof, um ihn dort zu erwarten, denn er kam immer mit dem Zug. Aber meistens stand er schon vor der Haustüre, wenn ich nach ihm fragte, war er schon zu Fuß vom Bahnhof gekommen.
Manchmal kam er schon die Stiege herauf und ich war noch oben. Dann rannte ich ihm entgegen und fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Sein Gesicht war stachlig, die Barthaare stupften, und er roch auch nicht gut. Aber das machte nichts: Hauptsache er war wieder da.
Doch diesmal blieb ich auf der Treppe erschrocken stehen, und er lachte auch nicht wie sonst, sondern begann zu weinen, auch meine Mutter schluchzte über mir.
Was ist denn mit deinem Arm, Babba? fragte ich. Denn ich hatte entdeckt, daß er den rechten Arm in einer Schlinge trug, und der Arm war dick verbunden, und ich meinte zu sehen, wie an einigen Stellen das Blut durchdrückte.
Mein Vater wischte sich mit der linken Hand über die Augen, dann streckte er sie mir entgegen und kam vollends die Treppe herauf. Und oben vor der Küche strich er mir übers Haar und sagte:
Ich bin verwundet. Granatsplitter. Ich war im Lazarett und habe jetzt noch vierzehn Tage Sonderurlaub bekommen. Somit hatte auch meine Mutter jetzt Klarheit oder eine Bestätigung dessen erhalten, was in den spärlich eintreffenden Briefen stand.
Ich muß jetzt alles auf links umstellen, erzählte mein Vater. Wir saßen jetzt schon in der Stube, und unsere Gesichter waren wieder etwas heller.
Am Anfang ist mir das schwergefallen. Ich konnte nicht mal einen Brief schreiben, ich mußte einen Kameraden darum bitten, daß er einige Zeilen an dich aufsetzt, sonst hättest du gar nichts vorher erfahren. Es tut noch weh, fuhr mein Vater fort; aber es war schon schlimmer. Wie gehts hier, fragte er jetzt.
Es geht; wir sind alle gesund, mein Vater und meine Mutter auch, berichtete meine Mutter; sie haben Frau Klein, die Kindergärtnerin, abgeholt.
Wer?
Die Polizei! Sie hätte etwas gegen den Führer gesagt und auch schon seit längerem Feindsender gehört; Radio London.
Ich verstand erst allmählich, um was es ging. Ich hörte nur den Namen Frau Klein und Kindergärtnerin und horchte auf; kam vorsichtig wieder an den Tisch zurück, an dem meine Eltern saßen und von dem ich mich inzwischen entfernt hatte, um die Tasche zu untersuchen, die mein Vater mitgebracht hatte. Auf dem Bahnhof war noch ein Koffer, erfuhr ich dann; den müßte ich nachher mit dem Leiterwägele holen – ich oder meine Mütter selber!
Was ist mit Frau Klein? fragte ich vorsichtig.
Ach, nichts, antwortete meine Mutter. Die kennst du doch gar nicht mehr; du warst nur ein paar Monate bei ihr. Die ist von der Polizei abgeholt worden.
Und wohin hat man sie gebracht?
Das geht uns doch nichts an, unterbrach mein Vater streng. Wir haben mit der nichts zu tun. Vielleicht ist sie auch schon wieder daheim.
Das glaube ich nicht, sagte ich. Warum glaubst du das nicht, wollte mein Vater wissen.
Ihr Mann ist ja auch nicht mehr daheim, und den haben sie auch abgeholt, die Polizei: der ist jetzt in einem Lager.
Halt den Mund; den Mund sollst du halten. Mein Vater wurde jetzt zornig, und es war nicht der übliche Zorn, den er im Suff hatte. Diesen Zorn hatte er auch, wenn er gar nichts getrunken hatte.
Weib, mach mir etwas zum Vespern, sagte er jetzt. Meine Mutter hatte schon von sich aus den Brotlaib auf den Tisch gebracht.
Du gehst heute aber nicht mehr fort, in die Wirtschaft, meine ich, fragte sie.
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