»Großmutter«, sagte ich mit gespielter Fröhlichkeit. »Ich bin Maja! Ich bin es, Großmutter!«
Die Sekunden vergingen. Großmutter sah durch mich hindurch und antwortete nicht. Doch von der dunkelhaarigen Frau in der Ecke kam ein Röcheln, das zur Hälfte ein Schnaufen war. Dann spuckte sie geräuschvoll in ihren Spucknapf.
»Sie redet nicht«, sagte sie. »Es hat keinen Sinn.«
Mein Herz hämmerte wie wild, aus Angst und Wut. Ohne daß ich mich umgedreht hatte, wußte ich, daß alle drei Augenpaare auf mich gerichtet waren. Ich gab hier die Unterhaltung ab, und sie alle saßen in der ersten Reihe. Ohne die rechte Hand von Großmutters Gesicht zu nehmen, bosselte ich mit der linken die Papiertüte auf und hielt Großmutter das Bananenbund hin.
»Guck mal, Großmutter«, sagte ich. »Bananen! Dein Lieblingsobst!« Großmutter reagierte überhaupt nicht. Hinter mir hörte ich ein Röcheln, das wie ein gehässiges Lachen klang. Jetzt war es die Dicke mit dem Strickzeug, die ihre Stimme erhob.
»Sie ißt nichts. Du siehst doch, daß sie am Tropf hängt.«
Ich wehrte mich. Mußte man in diesem verdammten Krankenhaus das Zimmer denn unbedingt mit einer Menge anderer Weiber teilen? Warum durfte Großmutter nicht in einem Einzelzimmer liegen, so daß man wenigstens in Ruhe bei ihr sitzen konnte. In der nächsten Sekunde verspürte ich nur Dankbarkeit. Mit dieser lebendigen Leiche allein im Zimmer zu sitzen war im Augenblick das letzte, was ich mir vorstellen konnte. Ich ließ Großmutters Gesicht los, das merkwürdigerweise in derselben Stellung verblieb, und nahm eine Illustrierte aus meiner Tasche.
»Hier ist was zu lesen, Großmutter!« sagte ich wieder mit genauso fröhlicher Stimme. »Es sind eine Menge Kreuzworträtsel drin, die hast du doch so gern.«
Großmutter antwortete nicht. Sie verriet mit keiner Miene, ob sie meine Worte gehört hatte oder ob sie sich meiner Anwesenheit überhaupt bewußt war. Doch ihr Brustkorb bewegte sich unverdrossen auf und ab, auf und ab. Ihren Atem konnte sie nicht kontrollieren. Über Leben und Tod hatte sie trotz allem keine Kontrolle. Hinter mir erhob die feiste Frau wieder ihre Stimme.
»Du bist vielleicht eine Optimistin«, sagte sie.
Ich starrte Großmutter mit wachsendem Widerwillen an, ohne mich zu der Person umzudrehen, die gesprochen hatte. Großmutters stumpfer schwachsinniger Blick in dem alt gewordenen Greisinnengesicht ruhte auf mir, in mir oder vielmehr auf einem Punkt weit hinter mir, als sei ich unsichtbar oder durchsichtig. Ihre Nägel auf dem weißen Bettzeug leuchteten gelb. Der Brustkorb bewegte sich beharrlich auf und ab, mager wie der eines ausgemergelten Vogels, als hätte er sich entschlossen, lieber seinen Besitzer zu Tode zu quälen als selbst zu sterben. An ihrem Kinn stach ein einsames weißes Haar hervor.
Die Alte hatte einen Bart bekommen!
Wut stieg in mir auf, durchlief in Wellen meinen Körper und erfüllte mich mit Ekel. Ich starrte noch ein paar Sekunden auf Großmutters Gesicht. Dann knüllte ich meine Tüte zusammen, nahm meine Tasche und stand auf.
»Mach’s gut, Großmutter«, sagte ich ziemlich hart. »Komm wieder auf die Beine, ja.«
Dann verließ ich, hochaufgerichtet und ohne die drei anderen eines Blickes zu würdigen, das Zimmer, ging den Korridor hinunter, ließ die Glastür mit ihrer verhaßten Senilitätssperre hinter mir, stieg die Treppe hinunter und ging wieder in den Novembermatsch hinaus.
Es war das erste Mal seit acht Jahren, daß ich Großmutter gesehen hatte.
Der ganze Besuch hatte nur zehn Minuten gedauert.
*
Zu Hause angekommen, rief ich Mutter an und berichtete, daß ich bei Großmutter gewesen war. Ich erreichte sie auf der Arbeit. Wie üblich saß sie mitten in einer Sitzung und hatte keine Zeit, mit mir zu sprechen.
»Ist schön«, sagte sie nur. »Und wie steht es mit ihr?«
»Na ja«, sagte ich. »Es scheint ihr nicht besonders gut zu gehen. Sie redet nicht und ißt überhaupt nichts mehr.«
Mutter stöhnte leise. Einen Moment darauf begann sie mit jemandem in ihrer Nähe über unvollständige Berichte zu reden, und ich konnte nicht feststellen, ob sie über Großmutter gestöhnt hatte oder über diese Berichte. Schließlich sprach sie wieder mit mir.
»Wie du hörst, habe ich jetzt ein bißchen viel um die Ohren«, sagte sie. »Glaubst du, du kannst noch mal hingehen? Ich meine, einer von uns muß sich ja um sie kümmern.« Ich fluchte innerlich. Ich hatte nicht die geringste Lust, Großmutter noch einmal zu besuchen.
»Sicher«, sagte ich. »Aber sie muß ein paar Tage warten, im Augenblick habe ich keine Zeit.«
»Danke, Schatz«, sagte Mutter. »Bis bald. Küßchen.« Noch ehe sie den Hörer aufgelegt hatte, hörte ich sie schon mit jemandem im Hintergrund reden.
Ich wollte nicht noch einmal zu Großmutter gehen, unter keinen Umständen. Ich war aus verschiedenen Gründen wütend auf sie. Erstens hatte sie die Erinnerung an meine Großmutter kaputtgemacht, an die nette alte Dame mit den Apfelbäckchen in dem kleinen Haus, und das gedachte ich ihr fürs erste nicht zu verzeihen. Es war eins der wenigen glücklichen Bilder gewesen, die ich von meiner Kindheit hatte. Außerdem zwang sie mich, dauernd ins Krankenhaus zu rennen, was ich grundsätzlich nicht ausstehen konnte. Ich hatte einen Horror vor Krankenhäusern; ich mochte den Geruch nicht, auch das Gefühl nicht, das einen dort überfiel. Es roch nach hinausgezögertem Tod; das ganze Krankenhausmilieu war eine einzige große Erinnerung an das, was kommen würde, was man aber jetzt noch eine Zeitlang hinauszuschieben versuchte. Um den Tod ging es. Den Tod, den Befreier. Den Tod, die Einsamkeit. Den Tod, die große Ungewißheit. Das Ende.
Außerdem hatte Großmutter mich vor drei wildfremden Weibern blamiert und mich als komplette Idiotin dastehen lassen, mit meinen Bananen und meiner lächerlichen Illustrierten. Es war, als läge sie einfach nur da, in eine Art Hochmut gebettet, und ich sei der lächerliche Clown, der Faxen und Kunststücke zu machen hatte, damit ihr Hof sich amüsierte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so wütend gewesen war oder mich so gekränkt gefühlt hatte. Ich war ganz einfach stinksauer, unheimlich wütend über Großmutters verdammte Zicken und Flausen. Iß, Alte, und rede! Oder stirb wenigstens wie eine normale Großmutter! Zum Teufel, gib den Geist auf! Lieg nicht so elend da, wie eine Art konzentriertes schlechtes Gewissen von uns allen! Verdammte Egoistin!
Natürlich sagte ich Mutter nichts davon, vor allem weil ich mich meiner Gefühle schämte. Statt dessen beschloß ich, nächste Woche zu Großmutter zu gehen, vielleicht diesmal mit einem Joghurt, den ich ihr einflößen und mit einem Buch, aus dem ich laut vorlesen konnte. Wollte sie nicht essen, konnte sie es ja bleibenlassen. Und wenn sie nicht hörte, was ich vorlas, dann war es auch scheißegal. Jedenfalls hatte ich was zu tun in den dreißig Minuten, die ich diesmal bleiben wollte, aber keinen Augenblick länger. Bis dahin wollte ich nicht über Großmutter nachgrübeln. Bis dahin wollte ich es mir ein bißchen schön machen.
Am Abend rief ich Eva an, die mit mir denselben Grundkurs in Soziologie belegte und die keine Fete ausließ. Ich fragte sie, ob sie Lust habe, ein bißchen mit mir rumzuziehen, trotz der bevorstehenden Prüfung. Das hatte sie; schließlich habe man ja noch das ganze Wochenende zum Pauken, sagte sie. Wir fingen bei mir zu Hause an, tranken ein bißchen Sherry aus einer alten Flasche, die ich von meinem Vater bekommen hatte. Wir tranken aus Eierbechern, während wir uns in meinem kleinen Badezimmer zurechtmachten, und wir rauchten beide Evas Zigaretten, trugen dick Eyeliner auf und redeten von Männern. Eva hatte neulich mit ihrem Freund Schluß gemacht und wollte einen neuen kennenlernen, und ich selbst hatte über zwei Jahre keine Beziehung gehabt.
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