Ich starrte ihn an. »Aha«, sagte ich. »Und was kann ich da tun? Ich bin eben oben gewesen, habe sie mit Joghurt und Banane gefüttert und ihr laut vorgelesen. Das Essen fiel ihr einfach wieder aus dem Mund. Sie will einfach nicht.«
Er sah mich leicht lächelnd an. »Woraus hast du vorgelesen?«
»Ivar Lo. ›Gute Nacht, Erde‹.«
Er nickte langsam. »Weißt du, der Grund, weshalb ich jemanden aus der Familie sprechen wollte, ist der, daß ich ihre Chancen als ziemlich gering einschätze, wenn sie ins Pflegeheim kommt.«
»Als gering? Warum? Was bedeutet denn das Pflegeheim?«
Er verschränkte die Finger unter dem Kinn und sah mich an. »Pflegeheim bedeutet ungefähr dasselbe wie Dauerpflege. Wie soll ich es sagen? Das Pflegeheim wird meist eine Art letzte Station. Von dort kommt nur äußerst selten jemand wieder hierher zurück. Oder von dort nach Hause.«
Wir schauten uns ein paar Sekunden an.
»Wie sehr magst du deine Großmutter?«
»Ich habe sie in den letzten zehn Jahren nicht gerade viel gesehen.«
Er lehnte sich zurück und starrte lange Zeit an die Decke. Ich glaubte allmählich, er sei eingeschlafen, als er sich plötzlich wieder aufrichtete. »Ich möchte dir eine Sache vorschlagen«, sagte er.
»Okay«, erwiderte ich vorsichtig. »Was denn?«
Er sah mich wieder lange und prüfend an. »Ich schicke deine Großmutter nicht vor, sagen wir, einem Monat ins Pflegeheim, falls es nötig ist. Dafür versprichst du, jeden Tag eine Stunde herzukommen, ihr vorzulesen oder mit ihr zu reden.«
Ich starrte ihn an. War er noch zu retten?
»Eine Stunde pro Tag?«
Er nickte. »Das ist nicht gerade viel, wenn man bedenkt, daß sie die übrigen dreiundzwanzig Stunden allein daliegt und aus dem Fenster starrt.«
Ich blickte zu Boden. Mein Herz schlug heftig. Würde ich tatsächlich eine Stunde pro Tag mit diesem lebendigen Leichnam dasitzen müssen? Gleichzeitig fühlte ich, wie sich mein schlechtes Gewissen bemerkbar machte. Er mußte es gespürt haben, denn genau dort hakte er ein.
»Meinst du nicht, daß deine Großmutter dir eine Stunde pro Tag geopfert hätte, wenn du es gebraucht hättest?« fragte er vorsichtig.
Großmutter. Ihre roten Wangen und leuchtenden Augen, ihre mehligen Hände. Das Tor zum Garten des Hauses, das immer halboffen stand. Man durfte daran schaukeln. Die Katze Strimlan lag im Gras und sonnte sich. Kitzelte man ihr den Bauch, rollte sie herum und streckte die schneeweißen Pfoten in die Luft. Großmutters gestreifte Schürze, die man beim Backen umbinden durfte, sie war wie ein langes Kleid. Die zerfledderten Märchenbücher aus Papas Kindheit, aus denen sie vorlas, wenn es dämmerte, Mama noch nicht wiedergekommen war und man ein bißchen müde und quengelig wurde. Dann bekam man eine Schnecke und ein Glas Milch und saß beim Vorlesen auf Großmutters Schoß. Bekleckerte man sie mit Milch, machte das nichts. Wenn Mama kam, wollte man nicht nach Hause. Und dann der Spielzeugschrank, mit Spielsachen von Großvaters Kindheit bis in unsere Tage. Den durfte man nur aufmachen, wenn Großmutter dabei war, aber sie nahm gern das eine oder andere heraus, zeigte es und zog die Spieldosen auf.
Ich seufzte tief.
»Und was soll das für einen Sinn haben?« fragte ich gereizt. »Sie hört ja doch nicht, was ich sage.«
»Wenn du das glaubst, warum hast du dann heute das Buch mitgebracht?«
Ich starrte ihn an. Er lächelte, aber seine Augen hinter der Brille blickten ernst.
»Na okay«, sagte ich schließlich. »Aber nur einen Monat. Danach ist das nicht mehr mein Problem.«
Wieder lächelte er. »Es ist auch jetzt nicht dein Problem«, sagte er. »Es ist ihr Problem. Und unseres. Ein Problem der Gesellschaft.«
»Aber ich bin es offensichtlich, die das in Ordnung zu bringen hat«, sagte ich wütend. Ich nahm meine Tasche und stand auf. Er streckte mir seine Hand hin.
»Dann sind wir uns also einig?«
»Sind wir wohl«, erwiderte ich.
Als ich das Gebäude verlassen hatte, blieb ich stehen und holte tief Luft. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Jeden Tag eine Stunde, und das einen ganzen Monat lang! Das bedeutete, fast bis Weihnachten.
Wie hatte er mich nur dazu gebracht? Ich lief los. Halb um das Haus herum, blickte ich an der Fassade hoch. Dort, vermutlich in dieser Reihe, war das Fenster, aus dem Großmutter schaute. Sie sah mich jetzt sicher nicht, aber dennoch. Dort drinnen lag sie, halbverfaulend in stummem Protest, voller Gase, Exkremente und den physischen Problemen einer alten Frau, an die ich nicht denken wollte und die durch ihre Weigerung zu essen kaum besser wurden. Von dort aus war es ihr gelungen, mich in ihrem verdammten Netz einzufangen, mich zu manipulieren. Wütend blickte ich zum Fenster hoch und ging dann weiter. Weg von Großmutter. Nach Hause zurück. Zurück zu Christos und seiner warmen Umarmung. Zurück zum Leben. Warum war ich so böse auf Großmutter? Sie hatte niemals versucht, mich oder einen anderen, den ich kannte, zu manipulieren, nicht so lange sie gesund und munter war. Woher kam diese Wut? Ich konnte sie mir nicht erklären, ich fühlte nur, daß sie stark und mächtig war. Ich war stinkwütend. Einen ganzen Monat war ich jetzt bei dieser Alten da oben angebunden.
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