Wenigstens waren die Eisenschellen, die Lias’ Handgelenke umschlossen, nicht zu eng. Und immerhin hatte man ihn in den Laderaum gebracht und nicht irgendwo an Deck gekettet. In der Sonne konnte es sicher schnell zu heiß werden.
Dennoch saß er entmutigt gegen den Mast gelehnt, die gebundenen Hände hinter dem Rücken, und blickte auf die Kisten und Fässer, die mit groben Tauen in dem Laderaum festgebunden waren. Wie um alles in der Welt sollte er wieder nach Hause kommen? Und konnte er das überhaupt? Lias begriff nicht einmal, wie er hier hergelangt war. Er war bloß im Haus seiner Großtante durch die Tür gefallen, die in den Flur führte. Und doch hatte er sich auf der Glücksdame wiedergefunden, in das Perlenauge des Herrn der Wellen gesehen und war Sila begegnet. Dem Jungen, den er so sehr für seinen Mut bewunderte. Einem Impuls folgend bäumte er sich in seinen Fesseln auf und zog mit aller Kraft. Doch die Eisenschellen schnitten Lias nur ins Fleisch und ließen ihn vor Schmerzen aufkeuchen.
»Das würde ich lieber sein lassen.« Die Stimme war neben Lias erklungen. »Du siehst ja aus wie unser Sila.«
Er drehte den Kopf so weit, bis er erkennen konnte, wer da gesprochen hatte. Er merkte, wie sein Mund aufklappte, als er den lässig gegen eine Holzkiste gelehnten Mann anstarrte. Einen Mann, der eben noch nicht da gewesen war. Einen Mann, der lediglich eine kurze blaue Hose trug. Und der nur etwa doppelt so groß wie Lias’ Hand war.
»Du … du … du bist ein Perlentaucher«, wisperte er verblüfft. Wieso überrascht dich das, Lias?, fragte er sich. Du bist an Bord der Glücksdame. Und du hast von den Perlentauchern gelesen. Lias hatte sie sich fast genauso vorgestellt wie die kleine Gestalt, die er vor sich stehen sah. Nur die Haare, die ihr grün wie Algenfäden vom Kopf hingen, waren noch wilder als in Lias’ Fantasie. Perlentaucher waren geradezu winzig. Doch sie waren kräftiger als ein ausgewachsener Mann. Viel kräftiger.
»Schlaues Bürschchen«, meinte der Perlentaucher und deutete auf Lias’ Fesseln. »Und was hast du ausgefressen? Kommt nicht oft vor, dass das Perlenauge jemanden in Eisen legen lässt. Hat eigentlich ein butterweiches Herz, der Mensch.«
Lias nickte. Er wusste, dass der Perlentaucher am eigenen Leib erfahren hatte, wie weich es war. In dem Roman seiner Großtante wurde erzählt, wie der Herr der Wellen während seiner Flucht vor königlichen Soldaten die Meeresbewohner aus einer tödlichen Gefahr gerettet und sich selbst dabei in Lebensgefahr begeben hatte. Aus Dank hatten die Perlentaucher dem Piraten einen besonderen Schatz geschenkt und sich in seinen Dienst gestellt. Seither überließen sie ihm einen Teil der Perlen, die sie aus dem Meer holten. Und derjenige, der dem Herrn der Wellen die lebenslange Treue geschworen hatte, stand nun direkt und leibhaftig vor Lias. Sein Name rutschte ihm wie von selbst auf die Zunge.
»Ich bin übrigens …«, fing der Perlentaucher an, doch Lias fiel ihm ins Wort.
»Nakao. Du bist Nakao. Ich habe schon so viel von dir gehört.«
Nun war es der Perlentaucher, der verblüfft dreinblickte. »Offenbar bist du mehr als nur schlau«, meinte er mit plötzlichem Misstrauen in der Stimme. »Ich wusste nicht, dass mir mein Ruf vorausgeeilt ist.«
»Ich weiß alles von dir«, sagte Lias, froh darüber, dass er in seinem Gefängnis jemanden getroffen hatte, den er kannte. Irgendwie zumindest. »Also fast alles. Du … du bist der Prinz der Perlentaucher. Aber du hast dich mit deinem Vater zerstritten, weil du nicht auf eurer Insel bleiben, sondern die Welt sehen wolltest. Also bist du mit einigen deiner besten Freunde auf einem Floß losgefahren. Aber schon nach ein paar Tagen seid ihr in einen tödlichen Sturm geraten. Und weil ihr keine Ahnung vom Segeln hattet, seid ihr gekentert.«
Mit offenem Mund hatte Nakao zugehört, doch nun runzelte er verärgert die Stirn. »Was meinst du mit keine Ahnung ?«, fragte er hörbar beleidigt.
»Ohne Schuld in eine ausweglose Situation geraten, wollte ich sagen«, erwiderte Lias schnell, der ganz vergessen hatte, wie stolz die Perlentaucher waren.
Das schien Nakao zufriedenzustellen. Er reckte sich in die Höhe, was ihn nur unwesentlich größer machte. »Es war eine sehr gefährliche Fahrt«, sagte er und betonte jedes Wort, als wollte er verhindern, dass auch nur der Hauch eines Zweifels an ihnen haften blieb. »Und es war hilfreich, dass der Mensch zufällig vorbeikam. Also haben wir uns entschlossen, ihm ein wenig zur Hand zu gehen, denn er wirkte sehr …«
»… hilfsbedürftig?«, bot Lias an.
Der Perlentaucher nickte. »Könnte man so sagen. Gut, du weißt einiges. Aber gerade das macht dich reichlich verdächtig. Und ist vermutlich auch der Grund dafür, dass du in Eisen gelegt wurdest. Wofür halten dich die Riesen da oben?« Nakao deutete mit dem Daumen zur Decke des Laderaums. »Einen Spion oder so?«
»Für einen Maskenschnitzer«, antwortete Lias.
Nakao gab sich keine Mühe, sein Lachen zu unterdrücken. »Ein Maskenschnitzer? Himmel. Den Kerlen fällt doch ständig das Gesicht herunter. Selbst ein Blinder sieht ihnen die falsche Haut auf den Knochen an. Typisch Menschen. Du bist ein Junge. Ich erkenne das sofort. Allerdings …« Nakao kniff die Augen zusammen, und Lias fühlte sich unangenehm gemustert. »Da ist etwas, das mir irgendwie seltsam erscheint. Du trägst ein Geheimnis in dir.«
Lias war einen Moment lang unsicher, wie offen er dem Perlentaucher gegenüber sein konnte, doch dann nickte er. Vielleicht war Nakao seine einzige Chance, die Figuren dieser Geschichte davon zu überzeugen, dass er kein Maskenschnitzer war. Wer konnte schon sagen, was sie mit ihm machen würden, wenn sie ihn erst zu ihr gebracht hatten?
»Ich …«, begann er, doch weiter kam er nicht. Ein Krachen ließ ihn die Worte verschlucken und ein Stoß erschütterte das Schiff so sehr, dass Lias kurz in die Höhe gerissen wurde. Der Perlentaucher konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Das Schiff begann mit einem Mal zu schaukeln, als würde es wild über das Meer tanzen.
»Verdammt«, zischte Nakao. »Was war das denn?«
Lias konnte nichts darauf sagen. Die Eisenfesseln schnitten in seine Haut, und er biss sich auf die Lippen, um den Schmerzensschrei zu unterdrücken. Ohnehin hätte er die Antwort nicht gekannt. Diese Welt hier war ihm fremd. Er wusste nicht, was geschah. Oder doch?
Nakao stolperte schon auf die Treppe zu, die hinauf zum Deck führte. Die Abstände zwischen den Stufen waren für ein solch kleines Wesen viel zu groß. Trotzdem sprang er sie scheinbar mühelos empor, als hätte er die Beine eines Frosches.
In Lias’ Kopf überschlugen sich die Gedanken. Auch im Roman hatte etwas das Schiff des Herrn der Wellen erschüttert. Etwas, das mit einem Sturm gekommen war. Spielten sich alle Ereignisse nun so ab wie in den Worten seiner Tante Hermine? Von oben drangen die aufgeregten Rufe der Piraten herab. Dumpfe Schritte. Lautes Poltern. Jemand rief: »Vorsicht!« Und eine andere Stimme befahl, die Kanonen auszurichten. Genau wie in der Geschichte, dachte Lias. Er ahnte, was er als Nächstes hören würde. Und da war es. Ein lang gezogenes, sirenenhaftes Brüllen legte sich über den Lärm und schien den ganzen Laderaum zu erfüllen.
Lias vergaß kurzzeitig zu atmen. Der Perlentaucher war die Treppe schon zur Hälfte hinaufgesprungen, als Lias ihm, so laut er konnte, zurief: »Sieh nach, ob dort ein Sturm aufkommt!«
Nakao warf ihm einen fragenden Blick zu, doch dann nickte er und war im nächsten Moment verschwunden.
Lias aber blieb dort zurück, alleine und voller Angst. Quälend lange Augenblicke verstrichen, in denen Lias nichts als den Lärm von oben hörte.
Endlich erschien Nakao wieder. Doch er war nicht alleine. An seiner Seite erkannte Lias den Jungen, der ihm so sehr ähnelte, als würde er in einen Spiegel blicken.
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