Er wollte sich umwenden und zurücklaufen. Wieder durch die Tür, um hoffentlich nach Hause zu gelangen. Doch der Pirat mit der Narbe griff zu und hielt ihn mit eiserner Kraft fest. Vergeblich versuchte Lias sich zu befreien.
Dann teilte sich die Menge mit einem Mal, und noch ein Mann erschien. Er trug einen langen nachtblauen Mantel, den ein goldenes Muster zierte. Das Haar, das er zum Zopf gebunden hatte, war so rot wie Feuer und sein linkes Auge war durch eine Perle ersetzt worden.
Und plötzlich wusste Lias, wo er war. Und wie der Mann vor ihm hieß. Er hatte von ihm und diesem Schiff gelesen. Es gab nur einen Piraten mit einem Perlenauge. Aber das konnte nicht sein.
Lias wollte sich losmachen und fliehen, doch die Arme hielten ihn gepackt.
Er sah den Mann mit dem Perlenauge so nah vor sich, dass er dessen Narben auf der Haut zählen konnte.
»Der Herr der Wellen«, wisperte Lias.
»Wo kommt er her?« Der Herr der Wellen stand so dicht vor Lias, dass der sich in dem Perlenauge spiegeln konnte. In dem Roman von Tante Hermine hieß es, dass der Pirat mit ihm bis in die Herzen der anderen Menschen blicken und die Lügen von der Wahrheit unterscheiden konnte.
»Er war auf einmal da«, erwiderte der Mann mit der Narbe. »Wir wollten gerade runter in den Laderaum, als …«
»Er ist ein blinder Passagier«, unterbrach ihn der andere eilfertig. Vermutlich wollte er sich bei seinem Kapitän beliebt machen.
»Das bin ich nicht«, sagte Lias, der den Rest seines Mutes zusammennehmen musste angesichts der Piraten. Wo genau war er hier? Der Herr der Wellen war eine Figur aus dem Buch seiner Großtante. Dann steckst du offenbar zwischen den Seiten, Lias, sagte er sich. Aber das war unmöglich. Lias schüttelte den Kopf, als könnte er diesen undenkbaren Gedanken vertreiben wie ein lästiges Insekt. Doch welche Erklärung konnte es sonst für all das hier geben? Und steckte irgendwo der Unsichtbare, dem er in das verschlossene Zimmer gefolgt war?
»Er ist dem Jungen wie aus dem Gesicht geschnitten«, rief einer aus der kleinen Menge, die sich hinter dem Herrn der Wellen gebildet hatte.
»Verdammt«, zischte der Pirat mit der Narbe. »Das stimmt. Das kann nur eines bedeuten.«
Lias verstand nicht. Wie wer sah er aus? Und was bedeutete es? Er hing wenigstens ebenso gespannt an den Lippen des Piraten wie die anderen.
»Er ist ein Maskenschnitzer.«
Ein Raunen ging durch die Menge und einige der Männer blickten Lias mit grimmiger Miene an.
»Ein Maskenschnitzer bringt Unglück über das Schiff, auf dem er sich einnistet«, zischte ein Alter, dessen Haut so braun war, dass sein weißes Haar hell zu leuchten schien. Maskenschnitzer . Lias hatte von ihnen in dem Roman gelesen. Seine Großtante hatte sich die Meeresgeister ausgedacht, die aus besonderen Muscheln die Gesichter von Menschen schnitzten und sich dann als diese ausgaben. Sie waren nicht sehr gefährlich, aber sie brachten alles durcheinander, weil niemand genau wissen konnte, wer echt war und wer nicht.
»Ich bin ein Junge«, rief Lias.
»Seht ihr?« Der Alte zeigte mit dem Finger auf Lias. »Er lügt. Alle Maskenschnitzer lügen.«
»Soll ich etwa behaupten, dass ich ein Maskenschnitzer bin?«, fragte Lias, der vor Ärger über diese Beschuldigung glatt seine Angst vergaß.
»Aha!« Der Alte klang triumphierend. »Er gibt es also zu.«
»Nein«, erwiderte Lias. Das war doch völlig verrückt. »Ich …«
»Junge«, rief der Piratenkapitän, der sich alles ruhig angehört hatte. Er hatte sich umgewandt und winkte jemanden herbei.
Ein Murmeln erhob sich unter den Seeleuten. Es klang, als verberge sich ein Schwarm Bienen zwischen ihnen. Ein einzelner Junge trat mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht aus dem Pulk heraus. Für einen Moment verschlug es Lias die Sprache. Er hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. Das dort … war er. Oder eine Art Zwilling? Aber wie konnte das sein?
Weil du zwischen den Seiten des Herrn der Wellen steckst, Lias, sagte er sich. So unglaublich das auch klingen mochte. Wenn das stimmte, dachte er, dann war das dort … »Sila.« Der Name rutschte ihm so selbstverständlich über die Lippen, als hätte er ihn schon sein halbes Leben lang benutzt. So vertraut erschien Lias der Junge, dessen Weg er in einem Schiff aus Buchseiten über ein Meer aus Tinte gefolgt war.
Die wachen Augen in dem dreckigen Gesicht, das seinem unfassbar ähnlich war, blickten ihn erstaunt an. Augen so blau wie seine eigenen. Nur der Zopf, den Sila trug, unterschied sie. Also hatte Tante Hermine den Helden seines Romans doch ihm nachempfunden. Aber das war vor vielen Jahren gewesen. Er sieht so aus wie du, weil du ihn dir so vorgestellt hast, sagte er sich. Ja, so musste es sein.
»Woher kennst du meinen Namen?«
Selbst ihre Stimmen klangen beinahe gleich. Silas wirkte nur ein wenig ernster. Vielleicht hatten die erlebten Abenteuer und das harte Leben auf den Planken der Glücksdame ihn schneller erwachsen werden lassen.
Lias wollte etwas sagen, doch der vernarbte Pirat drückte ihm kurzerhand den nassen Mopp gegen den Mund. »Er darf nichts sagen«, brachte der Mann aufgeregt zwischen den gelben Zähnen hervor. »In seiner Kehle wird der Klang eines Namens zum Fluch für seinen Träger.«
Einige der Piraten zischten böse.
Sila aber sah zweifelnd von dem Mann mit der Narbe zu Lias. Im Gegensatz zu den anderen glaubte Sila offenbar nicht, dass Lias ein Maskenschnitzer war.
Und auch der Herr der Wellen schien wenig überzeugt. »Seltsam«, bemerkte der Kapitän und beugte sich zu Lias hinab. »Ich dachte immer, Maskenschnitzer seien lichtscheu und würden sich vor allem in der Nacht zeigen. Außerdem«, er sah von Lias zu Sila, »ist er viel sauberer als unser Sila hier.«
»Umso gefährlicher ist er, Käpt’n«, behauptete der Pirat mit der gebogenen Nase. »Lasst mich ihm seine Zunge herausschneiden, damit er nicht am Ende noch Euch verfluchen kann. Und dann werfen wir ihn über Bord.«
Bei diesen Worten versuchte sich Lias, aus dem Griff des Piraten zu winden. Die Hände aber hielten ihn fest gepackt, und als er sich verzweifelt mühte, etwas zu sagen, lief ihm das dreckige Wasser aus dem Mopp in die Kehle und ließ ihn husten.
»Nun«, der Herr der Wellen fuhr sich über die raue Haut, auf der sein Bart wie wildes Gras wuchs, »das erscheint mir arg blutig für dieses Schiff. Nein, wir werden ihn in Eisen legen. Wir laufen in ein paar Stunden Marina Bay an. Dort werde ich sehen, was ich mit ihm mache. Ein Maskenschnitzer, hm?« Das Perlenauge des Piraten blieb an Lias’ Kopf hängen, als könnte er ihm die Gedanken von der Stirn lesen. »Wir werden ihn ihr zeigen. Sie wird wissen, was er ist.«
Wäre die Lage nicht so gefährlich gewesen, hätte Lias lachen müssen, als er hinab unter Deck gebracht und an einen der drei Maste gebunden wurde. Die beiden Piraten, die ihn entdeckt hatten, waren bemüht, ihn vor sich herzuschieben, ihm dabei den Mund mit dem Mopp zu verschließen und gleichzeitig sich selbst die Hände auf die Ohren zu pressen. Er hatte erwartet, dass sie ihn durch die Tür bringen würden, durch die er in diese Geschichte gestolpert war. Die Hoffnung war in ihm aufgekommen, dass er so auch wieder nach Hause gelangen würde. Stattdessen hatten sie ihn durch eine andere Tür getrieben, verfolgt von den ebenso angsterfüllten wie feindseligen Blicken der Piraten. Nur der Herr der Wellen und Sila hatten ihn mit anderen Augen angesehen. Der Pirat nachdenklich, der Junge … voller Fragen und Mitgefühl.
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