Gerd Mjøen Brantenberg - In alle Winde

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'In alle Winde' ist ein spannendes und witziges Roman über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens im Norwegen der sechziger Jahre. Über die Vergangenheit wird geschwiegen, ganz besonders, wenn die Eltern Nazikollaborateure waren; von Sexualität spricht niemand, schon gar nicht, wenn es um Homosexualität und Lesbisch sein geht. Inger Holm aus Fredrikstad sucht ihren Weg aus der Enge heraus findet ihn – trotz des Tabus, die um sie aufgestellt sind. Nach der Schule arbeitet sie ein Jahr als Au-pair-Mädchen in Edinburgh, danach geht sie auf die Universität in Oslo. Allmählich wird ihr bewusst, dass sie Frauen liebt; aber auch, daß sie zumindest ihrer Mutter mitteilen möchte, von welcher Art ihr Leben sein wird. Ein Bild der sechziger Jahre, verknüpft mit einer Coming-out-Geschichte. AUTORENPORTRÄT Gerd Brantenberg, geboren 1941 in Oslo, wuchs in der norwegischen Kleinstadt Fredrikstad auf. Sie studierte Englisch, Geschichte und Staatswissenschaft und arbeitete ab 1971 als Lehrerin. Von Anfang an beteiligte sie sich aktiv an der neuen Frauenbewegung in Oslo und Kopenhagen, rief die lesbische Bewegung Norwegens ins Leben, was Mitbegründerin des Krisenzentrums für misshandelte Frauen in Oslo und einer homosexuellen LehrerInnengruppe. 1978 gründete sie ein literarisches Frauenforum, das Frauen zum schreiben und Veröffentlichen ermunterte. 1986 war sie Mitorganisatorin der Zweiten Internationalen Frauenbuchmesse in Oslo. TEXTAUSZUG "Die Welt war voller Frauen. Dicke, dünne, breitschultrige und schmächtige, Frauen mit genau der richtigen modischen Frisur, Frauen mit hochgestecktem Haar und Frauen mit wilden Locken, die unbedingt geschüttelt werden wollten. Manche waren so schön, dass Inger sie nicht ansehen konnte. Deshalb machte sie es, immer wieder, und wurde geblendet. Viele riefen und zogen sich zurück, und andere waren ganz grau und taten so, als wären sie gar nicht vorhanden, und wenn sie sich so einer Frau näherte und etwas Lustiges sagte, dann konnte auch so eine Frau plötzlich aufleuchten und schön werden. Es gab keine, die nicht schön werden konnte, wenn sie mit ihr sprach. Denn etwas wohnte in allen Frauen, das nur darauf wartete, zu seinem Recht zu kommen.'

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GERD MJØ­EN BRANTEN­BERG

Für Mama

Die Phönixtreppe

Inger steht auf der Phönixtreppe in Fredrikstad, trägt ihre Studentenmütze und hat ein gutes Abitur gebaut. In ihr herrscht die Katastrophe. Neben ihr reckt Vater den Hals, um mit aufs Bild zu kommen. Auf der anderen Seite steht ihre Mutter mit den anderen Müttern und schaut zu. Um Inger herum steht der ganze Abiturjahrgang in ordentlichen Reihen auf den sieben Treppenstufen – alle mit ihren Paten, genau wie sie. Hartvig mit Kaspar Olesen, Leif Monradsen mit seinem Vater. Else Tøgern mit Turid aus Plus, Lillian mit ihrer Mutter (einer der wenigen Mütter mit Abitur in der Stadt), Tove Midtbø mit ihrem Vater. Alle. Da sind sie alle. Das ist meine Welt, denkt Inger. Das weiß sie. Alles, was ich bin, wohnt in diesem Jahrgang, alles, was ich kenne, und jetzt müssen wir uns trennen, und in ihr herrscht die Katastrophe.

Niemand von all denen in ihrer Welt, die sie so gut kennen, sieht diese Katastrophe. Sie ist unsichtbar, und Inger ist ein ziemlich hübsches Mädchen (sagen sie), und sie ist tüchtig, sie ist sogar komisch, eine sehr gefragte Eigenschaft. Das sagen sie, wenn sie „hübsch“ auch oft nur unter Vorbehalten anführen. „Du müßtest abnehmen“, hatte Jorunn Johansen gesagt. „Wenn sie sich nur ein bißchen flotter zurechtmachte, dann wäre sie die Hübscheste im ganzen Jahrgang“, hatte Sigvart Jespersen gesagt, allerdings nicht zu ihr. Die Haare und der Speck und die Unordentlichkeit waren Hindernisse beim Hübsch-Sein, und das konnten alle sehen. Aber das ließ sich ändern, an dem Tag, an dem sie das selber wollte. Sie brauchte nur aufzuhören, heimlich alle diese Smiles zu essen und alle diese Coca Colas zu trinken, sie müßte sich nur die Haare zurechtmachen, sich gerade halten und etwas Hübsches anziehen – und dann würde es ihr genauso ergehen wie H. C. Andersens Entlein. Aber in ihr würde noch immer die Katastrophe herrschen. Und wer kann schon mit der Katastrophe in der Brust Schwanenfittiche ausbreiten?

Die Katastrophe war Tove. Die Katastrophe war, daß Tove dort stand und die Hübscheste und Schönste war, die jemals durch Nygaardsgata gewandert war, die Phönixtreppe betreten und die Welt erfüllt hatte. Die Katastrophe war: Wenn Tove sie ansah, mit ihr sprach, sie am Arm faßte, weinte oder lachte oder mit ihr Bridge spielte, dann war das Ziel des Lebens erreicht.

Einmal – ein einziges Mal – ganz früh am Morgen, als die Vögel in Kirkeparken sangen und sie auf dem Heimweg von einem Abiturfest im Pavillon saßen und sie nicht mehr ganz nüchtern gewesen war, hätte sie Tove um ein Haar die ganze Katastrophe erzählt. Aber in diesem Moment hämmerte ihr Herz so wütend los, daß ihr die Worte im Hals steckenblieben. Und jetzt mußten sie sich trennen. Tove würde in einem Pub in Wiltshire stehen und den Bauern Bier ausschenken. Wie es möglich sein sollte, auf den Beinen zu bleiben, wenn der Zug mit Tove abfuhr, war ein ungelöstes Rätsel.

Solche Rätsel dürfte es in meinem Leben nicht geben, dachte Inger, aber es hatte sie immer gegeben. Immer kam ein Mädchen und machte ihr weiche Knie. Ihre Haut wurde lebendig, und ihre Gedanken waren hundertmal schneller als vorher und wirbelten mit den ausgefallensten Ideen durcheinander. Wenn nur Tove geschehen wäre und sonst keine andere, wäre die Katastrophe vielleicht nicht so groß. Aber so war es ja nicht. Nein, nein und abermals nein. Sie brauchte nur über all die neuen schwarzen Mützen hinwegzublicken, und sie wußte, daß dort Beate Halvorsen und Elsa Tøgern und Jorunn Johansen standen, und sie waren geschehen, allesamt, jede auf ihre Weise, nicht gleich gewaltig, nicht gleich lange, sie waren so verschieden geschehen, wie ihre Gesichter waren, ihre Stimmen und ihr Lachen, sie war ganz einfach unverbesserlich verrückt auf Mädchen. Idiotisch, das war das Wort, das Fredrikstadwort, das sich auf die Katastrophe anwenden ließ und das alle verstehen würden, und wenn sie es gehört hätten – all diese Menschen, die ihre Welt ausmachten –, dann hätten sie gekotzt. Daran gab es keinen Zweifel.

Sie selber kotzte nicht. Sie mußte mit der Schönheit leben, die diese Mädchen waren. Sie hatte ein gutes Abitur gebaut. Sie konnte machen, was sie wollte, und sie konnte nur eines machen, nämlich in die Welt ziehen und hoffen, daß die Mädchen verschwinden würden.

Alle stehen auf der Phönixtreppe in Fredrikstad. Sie hoffen. Sie denken. Sie werden die Stadt verlassen, die sie großgezogen hat, die Stadt, der sie alles schulden. Aber so denken sie nicht. Sie finden nicht, daß sie irgendwem irgendwas schulden. Sie haben nicht darum gebeten, geboren zu werden. Es ist ihnen einfach passiert. In Fredrikstad, im St. Josefs-Hospital sind sie auf die Welt gekommen, fast alle. Und sie schulden niemandem etwas. Sie stehen da und lächeln. Sie werden schließlich fotografiert.

Sie stehen da und hoffen, daß sie auf dem Bild gut aussehen werden. Daß sie flott aussehen werden. Daß sie genau so aussehen werden, wie sie sind. „Hallo, Leute!“ sagt der Fotograf. Und alle sehen ihn an und hoffen, daß das Bild ihre Schönheit und Klugheit ausstrahlen wird.

Es wird ein klares und flottes Bild. So klar und flott wie alle anderen Bilder, die nach jedem Abitur auf der Phönixtreppe in Fredrikstad aufgenommen worden sind. Es wird bei Fotograf Sollem für alle ausgestellt, die sich die Mühe machen, im Vorbeigehen stehenzubleiben und hinzuschauen, die sich zum Fenster vorbeugen, die Augen zusammenkneifen und sagen: „Ach, das ist sie ja!“ oder „Aber da ist er ja! Siehst du? Da rechts, in der zweiten Reihe von oben! Das habe ich ja immer gesagt – dieser Junge, der hatte was Besonderes.“

Für andere, die vorbeikommen und niemanden in diesem Jahrgang kennen, gibt es nichts Außergewöhnliches zu sehen. Einfach noch ein Jahrgang von Köpfen unter schwarzen Mützen. Seltsam, wie gleich sie alle aussehen, Jahr für Jahr, abgesehen davon natürlich, daß es Jungen und Mädchen sind.

Und manche bleiben stehen und denken: Da hätte ich stehen sollen!

Inger hatte immer gewußt, daß sie dort stehen würde. So sicher, wie es im Winter auf Wiesebanen Schlittschuheis und im Frühling in Rødskogen Leberblümchen geben würde, so sicher war auch, daß sie eines Tages Abitur machen würde. Und jetzt kam der Sommer, und an seinem Ende wartete keine Schule mehr. Sie fuhr mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Ellen nach Tjøme, wie immer, dort gab es Meer und Felsen, und sie hatte keine Ahnung, was sie werden sollte. Das lag daran, daß sie wußte, sie würde Schriftstellerin werden.

„Was willst du werden?“ fragten alle. Werden, werden, werden. Immer redeten sie von „werden“. „Ich bewerbe mich um ein Lehramt in Karasjok und Kautokeino“, sagte sie, denn sie hatte gerade entdeckt, daß es eine Zeitschrift gab, in der Stellen ausgeschrieben waren, und daß darin Karasjok und Kautokeino vorkamen. „Das wird mein Militärdienst, schließlich darf ich mein Land sonst nicht verteidigen, wegen meines Geschlechts.“ Das war blödsinnig. Das Militär war auch blödsinnig, keiner der Jungen wollte hin. Aber das machte das andere nicht weniger blödsinnig. Sie bekam keine Antwort, weder aus Karasjok noch aus Kautokeino. „Dann nicht. Dann müssen sie eben ohne mich zurechtkommen“, sagte sie. Oder: „Eines schönen Tages werde ich mich wohl als Schlagersängerin durchschlagen.“ „Du, Inger“, fragte Liv Mo, „wenn du eine berühmte Schauspielerin bist und ich mit Blumen komme, versprichst du mir, mich dann noch zu kennen?“

Das Seltsame war, daß sie erwarteten, sie würde sich schon durchschlagen. Egal, als was. Und sie witzelte sich durch die Zukunftsmöglichkeiten hindurch. „Vielleicht werde ich Journalistin.“ „Journalistin“ war das Wort, das sie statt „Schriftstellerin“ verwendete. Denn die Hoffnung war so groß, daß sie sie zusammen mit der Katastrophe in ihrem Herzen versteckte.

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