Als Schriftstellerin würde sie „Kristin Lavranstochter“ schreiben, „Anna Karenina“ und „Meuterei auf der Bounty“, und sie würde ein Buch schreiben, das „Tausend Kessel“ hieß und das sie noch nicht gelesen hatte. Sie würde auch gern „Ruf der Wildnis“ von Jack London schreiben und die Auswandererbücher von Moberg, vor allem „Bauern ziehen übers Meer“. „Bauern ziehen übers Meer“ war das schönste von allen Büchern, die sie schreiben würde.
Um alle diese Bücher schreiben zu können, mußte sie weg. In Fredrikstad hatte sie nichts erlebt, worüber sie schreiben könnte, es war entweder so öde, daß sie längst eingeschlafen wäre, noch ehe sie halb fertig war, oder so entsetzlich, daß sie es nicht erwähnen konnte. Ein Roman war in seinem Wesen das genaue Gegenteil von Fredrikstad.
Eines Tages kam Evelyns älteste Schwester, Solveig, in ihren roten Gewändern mit einer Zeitung über den Hof geflattert. „Hier“, sagte sie und zeigte auf eine Annonce. „Edinburgh Family of six wants au pair for a year. Write to: Mrs. Mayfield, 6, Aberdeen Road, Edingburgh 5. 1 £ a week.“
Inger starrte die Anzeige an. Das Zeichen £ war beeindrukkend. „Aber ich kann Hausarbeit nicht ausstehen!“ sagte sie.
„Das macht doch nichts“, erwiderte Solveig, die selbst die seltsamsten Arbeiten verrichtet hatte, in Europa und in Amerika, einfach, um die Welt zu sehen. Inger sah ihre Tante skeptisch an. „Du kommst raus! Und das wirst du nie bereuen!“
Inger schrieb, sie heiße Inger. Sie sei achtzehn, ihre Hobbys seien Gitarre spielen, schreiben und lesen, und Hausarbeit könne sie nicht ausstehen. Yours sincerely, Inger Holm. Dann wartete sie voller Spannung darauf, daß das Leben endlich geschah.
Schließlich kam ein Brief. Mrs. Mayfield schrieb, sie sei sorry, weil Inger Hausarbeit nicht möge, aber es handle sich auch nur um light housework, und sie könne drei oder vier Abende die Woche The Royal High School besuchen und sonntags in The Scandinavian Church in Leith gehen. (Die glaubt doch tatsächlich, ich würde in die Kirche gehen!) Here’s our family.
Ein kleines Bild von the family war beigelegt. Die bestand aus Mr. und Mrs. Mayfield, dem zwanzigjährigen Glen, der achtzehnjährigen Sheila, dem vierzehnjährigen Duncan und dem sechsjährigen Adam. Die beiden jüngeren Söhne schienen eine Art Uniform zu tragen. Sheila hatte ein Sommerkleid an und ein ganz winziges Verkäuferinnenlächeln. Inger beugte sich über das Bild und betrachtete es genau, und plötzlich wußte sie, daß dieses Mädchen – diese unbekannte Schottin auf dem winzigen Bild – ihre neue Katastrophe sein würde.
Evelyn und Inger saßen auf dem Felsen, die Möwen jagten hin und her, und Mama grauste sich vor Ingers Abreise. „Du bringst soviel Leben ins Haus!“ sagte sie. Aber sie sagte auch: „Wenn du Jahr für Jahr am selben Ort wohnst, ist ein Jahr wie das andere. Aber im Ausland ist immer alles neu, und du bekommst eine Quelle, aus der du später immer wieder schöpfen kannst.“
Sie hatten gebadet, ihre Beine waren sonnenbraun, und Inger hatte Evelyns schlanke Beine geerbt. Daß sie ansonsten nicht so schlank war, hielt Mama ihr nie vor. Sie sagte: „Wart nur ab! Wenn du dich verliebst, dann wirst du dünn!“
Das war ihr nämlich passiert, und auch ihrer Schwester Lisa war es immer so gegangen. Dünn und verliebt. Mama sprach über das Ausland. Sie erzählte von damals, als sie jung und verliebt war. Ehe Papa auftrat. Inger kannte Mamas ganzes Leben. Mama mit vierzehn Jahren, lachlustig und voller Hemmungen, die sich unter dem Tisch in der Ris-Schule mit ihrer besten Freundin, Ragnhild, traf, während die Lehrerin sich den Kopf zerbrach, wo sie denn wohl steckten. Mama mit fünf Jahren, ein bißchen zu dick und mit einem blonden Pony, als sie nur deutsch sprechen und das norwegische L nicht zustandebringen konnte. Und dabei brauchte sie es dringend, denn sie lernte bald, daß sie „Selber dick“! rufen mußte, wenn jemand „Dicke!“ zu ihr sagte. Aber das schaffte sie nicht. Mama war immer in Deutschland gewesen und hatte als Kind Heimweh. Aber ihre Mutter, Emilie, hatte gesagt, sie würden jeden Tag um zwölf Uhr aneinander denken. Deshalb dachte Mama jeden Tag um zwölf Uhr an Emilie, die sich vielleicht in Italien befand oder in Oslo, jedenfalls viele Meilen weit weg, und jeden Tag um zwölf Uhr dachte Emilie an Mama, egal, wo sie war.
Inger wußte auch jetzt, wie es war, Mama zu sein. Sie war gefesselt und gefangen. Sie war nervös. Aber Papa machte sie noch nervöser. „Nerven?“ fragte Mama, als sie jung war. „Was ist das?“ Aber dann heiratete sie Papa. Das war 1937 in Potsdam, und es kam dazu, weil Papa dafür gesorgt hatte, daß Helga unterwegs war. Das Schlimmste in Mamas Leben war, daß sie Helga verloren hatte. Das war auch das Schlimmste in Ingers Leben. Inger wußte nicht mehr, wie oft sie die fünf Tage durchgegangen waren, vom Samstag, als Helga krank wurde und alle dachten, es sei eine Sommergrippe oder vielleicht Mumps, bis zum frühen Donnerstagmorgen, dem 27. September 1951, als sie an Kinderlähmung gestorben war.
Helga war im Felsen. Darin, wie er sich rundete, nur darin. Sie war in den herumjagenden Möwen und in den Gletschermühlen auf der anderen Seite der Bucht. Nirgends war sie so sehr in allem wie hier. Das wußten sie beide, als sie dort saßen. Sie konnten es sagen oder darüber schweigen. „Weißt du noch, wie sie dahinten beim Eisenbolzen stand und die Hüften schwenkte und sang: Tarara pompia!“ Und dann lachten sie. Helga war witzig. Es war vielleicht ein bißchen seltsam, über sie zu lachen. Aber Helga wußte doch nicht, daß sie in all den vielen Jahren die Schwester sein würde, die gestorben war.
Und jetzt verliert Mama auch mich, dachte Inger. Aber ich sterbe ja schließlich nicht. Obwohl auch das nicht sicher ist. Denn schon mit zehn Jahren wußte Inger, daß man jederzeit sterben konnte. Und sie kam gar nicht auf die Idee, sich davor zu fürchten. Sie würde nur dorthin kommen, wo Helga war, und sie war doch immer schon hinter Helga hergetrottet. Daß andere sterben könnten, davor hatte sie sich seit damals allerdings immer gefürchtet.
„Warst du eigentlich noch nie verliebt?“ fragte Mama.
Die Frage kam so plötzlich. Sie hatten lange still gesessen. Mamas Frage. Sie war nah und warm.
Inger hatte immer gewußt, daß diese Frage kommen würde. Eines Tages. Eines Augenblicks. Dieser Augenblick war jetzt. Jetzt, und nicht ein anderes Mal.
Ihr Herz hämmert: Ich muß antworten. Der Felsen ist rund und glatt, sie sehen auf die Schären. Inger sieht nicht dorthin, wo Mama ist. „Meinst du etwa, ich wäre ganz und gar gefühllos?“ fragt sie. „Aber nicht doch“, wehrt Mama sofort ab. Denn das glaubt sie ja nicht. Das glaubt sie wirklich nicht.
Aber Inger hat geantwortet, und mehr antwortet sie nicht. Sie spürt Mamas Sehnsucht, und sie denkt: Ach, Mama! Du hättest Helga behalten sollen! Was bin ich für eine Tochter, wenn ich das nicht beantworten kann? Das Schlimmste, was mir passieren kann, weißt du, was das ist? Daß ich mich von Tove verabschieden muß. Aber die Worte – die unglaublich schlichten Worte – wollen nicht heraus.
Der August ist von Abschieden erfüllt. Und bei jedem wird die Stadt unwirklicher. Fredrikstad wird der Inhalt des Lebens entzogen. Da steht sie tatsächlich, zusammen mit einigen anderen, die noch nicht losgefahren sind, auf dem Bahnhof, um einen Zug abfahren zu sehen, und gegen jedes Naturgesetz tragen ihre Beine sie. Wann wird sie sie wiedersehen? Wann wird irgendwer irgendwen wiedersehen? Niemand weiß es; allen Versicherungen zum Trotz, daß sie immer befreundet sein wollen, wissen sie, daß die Welt in Wirklichkeit schrecklich groß ist. Aber was ist sie? Und was wird jetzt ihr Inhalt sein, wo wir nicht mehr ihr Inhalt sind?
Bei diesen Abschieden wird nicht geweint. Junge Menschen weinen nicht. Die Beine, auf denen sie stehen, weinen. Aber das sieht niemand.
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