Gerd Mjøen Brantenberg - Am Pier

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Der fünfziger Jahre in Norwegen.Inger kommt aufs Gymnasium, sie fühlt sich in der neuen Umgebung einsam und elend. Aber dann trifft sie Beate, und alles ist gut. Aber Beate ist ein uneheliches Kind, und es wird allgemein missbilligt, dass ihre Mutter, die alle 'Fräulein Halvorsen' nenne, ihre Tochter aufs Gymnasium schickt; ein uneheliches Kind ist eine Katastrophe. Und dann gibt es Hartvig. Hartvig ist von einer frommen Familie adoptiert, und er möchte wissen, wer seine biologischen Eltern sind. Er entdeckt, dass sein Vater ein deutscher Soldat war. Kinder von deutschen Soldaten und Kinder von Kollaborateuren waren zu wer Zeit elend dran. Der fünfziger Jahre: Alle hören Catarina Valente und Bill Hailey; Aufklärung, Verhütung und Abtreibung gibt es nicht; und den Mädchen wird vom naturwissenschaftlichen Zweig abgeraten, weil Frauen für Mathematik nun mal ungeeignet sind. Ein präzises, witziges Zeitbild der fünfziger Jahre, kommentiert vom Chor der Kellnerinnen des Restaurants im Erdgeschoß von Ingers Haus – sie haben den Klatsch der ganzen Stadt im Kopf und eine Meinung zu allem, was geschieht.AUTORENPORTRÄTGerd Brantenberg, geboren 1941 in Oslo, wuchs in der norwegischen Kleinstadt Fredrikstad auf. Sie studierte Englisch, Geschichte und Staatswissenschaft und arbeitete ab 1971 als Lehrerin.Von Anfang an beteiligte sie sich aktiv an der neuen Frauenbewegung in Oslo und Kopenhagen, rief die lesbische Bewegung Norwegens ins Leben, was Mitbegründerin des Krisenzentrums für misshandelte Frauen in Oslo und einer homosexuellen LehrerInnengruppe. 1978 gründete sie ein literarisches Frauenforum, das Frauen zum schreiben und Veröffentlichen ermunterte. 1986 war sie Mitorganisatorin der Zweiten Internationalen Frauenbuchmesse in Oslo.-

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Gerd Mjø­en Branten­berg

Erster Schultag

Schon seit vielen Jahren gingen die Jugendlichen durch die Stadt. Mit großen Schultaschen, die sie in der Hand trugen oder sich über die Schulter warfen, gingen sie in Gruppen, mit Fahrrädern, mit denen sie nicht fuhren, durch Fergestedsveien und durch Nygaardsgata, in einem großen Strom, um zwei Uhr. Jeden Tag. Sie redeten und gingen. Und wenn einige von ihnen doch fuhren, fuhren sie im Gehtempo neben denen her, mit denen sie redeten. Einige von ihnen waren fast schon Damen. Und am Ende machten sie das Abitur.

So war es schon seit vielen Jahren. Die Jugendlichen bekamen es nie über, auf die immer gleiche Weise um zwei Uhr durch die Straßen zu gehen oder langsam zu radeln und die Stadt zu füllen. Jetzt würden sie auch so sein. Jetzt würden auch die Kleinen aus der Volksschule ihre Ranzen an den Nagel hängen und sich in langsamen Gruppen auf den Straßen unterhalten.

Sie gehen durch das hohe gewölbte Tor in die Gebäude, in die die Jugendlichen gehören, das alte gelbe Haus mit Treppengiebel gegenüber dem Pier und das neue graue langweilige Gebäude nebenan. Es ist warm, die Sonne scheint auf den Asphalt, an allen ersten Schultagen sind fünfundzwanzig Grad im Schatten. Wieder sind sie die Kleinsten.

Von den dreiundzwanzig Mädchen, die vor den Sommerferien die Schule von St. Croix verlassen hatten, begegnen sich nun elf wieder. Sie drängen sich zusammen und warten. Alle anderen verschwinden in Türen und auf Treppen des gelben Gebäudes und des Neubaus und wissen, wohin sie gehören. Sie selber bleiben stehen und warten ab. Alle aus Trara auf einem Haufen, alle aus Gamlebyen, Seiersten, von überallher und sogar vom Land stehen und warten; sie wagen nicht, einander anzusehen, sehen nur hin, wenn die anderen das nicht merken, damit sich ihre Blicke nicht begegnen müssen. Die Jungs aus Trara sind so groß!

Der Rektor erscheint mit milder, ernster Miene auf der Treppe. Er wird ihre Namen verlesen. Und sie in sechs Klassen von A bis F einteilen. Er hält ein Blatt Papier in der Hand und blickt über sie hinweg. Zögernd wenden sie sich ihm zu. Neben ihm stehen sechs Lehrer, sechs Studienräte, und halten in der Luft nach nichts Ausschau. Jetzt braucht niemand mehr „pst“ zu sagen. Es ist still in der heißen Sonne auf dem Hof, wo alle nur auf ihren Namen warten.

„Alle, die in die A-Klasse kommen, kommen hier herüber, wenn ich sie aufgerufen habe“, sagt der Rektor und nickt leicht zu einer unbestimmten Ecke bei der Treppe hinüber. Er ruft auf, einen Namen nach dem anderen, und bei jedem Namen verläßt jemand die dichtgedrängte Menge und geht zur Ecke bei der Treppe, wo die Gruppe wächst und wächst, bis sie zum Schluß die gesamte A-Klasse bildet. Die, die das Glück haben, schon jemanden aus dieser neuen Klasse zu kennen, lachen sich an, und einige fangen eifrig an zu reden. „Pst!“ Die ursprünglichen Gruppen werden erbarmungslos getrennt. Drei bis vier aus jeder der großen Schulen kommen in eine Klasse. Jetzt verschwinden Lillian Oppegaard und Jorunn Johansen zusammen mit einem Schwall aus Seiersten, Lahellemoen, in einer der Türen des Neubaus, und Gott weiß, ob nicht auch welche aus Tørp in Børje dabei sind, angeführt von einem Studienrat mit unvorstellbar weit auseinanderzeigenden Füßen, Aktentasche und düsterem Gesicht.

Die B-Klasse wird aufgerufen. Das Ganze wiederholt sich. Was war hier los? Waren die Gerüchte ihnen vorausgeeilt? Hatte der Oberlehrer aus St. Croix irgendwann im Laufe des Sommers den Rektor angerufen und gesagt: „Ja, hallo? Also hör mal zu. Dieses Jahr haben wir hier in St. Croix eine Mädchenklasse, die wirklich alle Rekorde in schlechtem Benehmen schlägt. Sorg dafür, daß so wenige wie möglich von denen in dieselbe Klasse kommen.“

Inger Holm wird zusammen mit einigen großen Jungen aus Trara aufgerufen. Nur Sølvi Andersen landet in derselben Klasse, und mit der hat Inger nie viel geredet. Sølvi ist vom lieben und ängstlichen Typ. Ansonsten kennt sie niemanden aus der neuen Klasse und weiß nicht, was sie sagen soll. Sie ist es gewöhnt, drauflos zu quatschen und zu lachen. Aber jetzt geht sie einfach nur mit der B-Klasse über den Schulhof und sagt kein Wort und tut so, als wäre überhaupt nichts los. Die Jungen sagen auch nichts, aber plötzlich rufen sie einander etwas zu und lachen. Inger versteht nicht, worüber. Hier gibt es nichts zu lachen.

Jetzt wird die C-Klasse aufgerufen, und darin landen nur zwei aus St. Croix. Schweigend ziehen sie davon. Kurz darauf stößt jemand ein Heulen aus. Nina Bøhmer und Liv Mo sind in dieselbe Klasse gekommen, sie umarmen sich und prusten sofort los, gehen Arm in Arm an der Spitze der D-Klasse neben einem flaschenförmigen Studienrat mit roten Haaren und unsichtbaren Augenbrauen, den sie in Englisch haben werden.

Derweil entsteht in der Ecke langsam die E-Klasse. Astrid Evensen, Marthe Rud und Vivi Strøm-Hanche landen darin. Am Ende sind neunundzwanzig übrig und bilden die F-Klasse.

Als die B-Klasse ihr Klassenzimmer im Erdgeschoß des Neubaus erreicht, stürmen die Trara-Jungen hinein und belegen die Tische am Fenster. Wer nicht rechtzeitig dort angekommen ist, läßt sich in der Nachbarreihe nieder, die Mädchen nehmen die restlichen Plätze. Siebenundzwanzig gehen in diese Klasse, zwölf Mädchen und fünfzehn Jungen.

Es ist seltsam, mit Jungen in einer Klasse zu sein. Inger ist nicht sicher, ob sie das so richtig findet. Sie geht seit sieben Jahren zur Schule. Aber sie war nie zusammen mit Jungen in einem Klassenzimmer. In St. Croix gab es getrennte Klassen. Inger sieht sie an. Sie können nicht still sitzen. Einige zuckten unaufhörlich mit den Beinen. Warum machen sie das? Inger glotzt die Beine von einem namens Sigvart Jespersen in der ersten Reihe an. Seltsam. Einige von den Jungen sind so klein, daß sie genausogut in die dritte Volksschulklasse hätten gehen können. Einer von ihnen heißt Yngve und hat eine Igelfrisur und eine rötliche Haut.

Inger sieht die Mädchen an. Ob die wohl lachen können? Ob sie mit ihnen so herumjuxen kann wie mit Astrid Evensen und Marthe Rud? Sie sehen allesamt aus wie die reinen Tugendengel. Die mit dem ärgsten Engelblick heißt Beate Halvorsen. Das wird entsetzlich werden.

Was soll sie machen? Aber sie kann nichts machen. Sie muß hierbleiben. Inger sieht ihren Klassenlehrer an und fragt sich, was sie von ihm halten soll. Er ist ein kleiner sanfter Langweiler und soll ihnen Deutsch beibringen. Er hat seinen Namen gemurmelt, aber es war nicht möglich, den zu verstehen. Hat er Ulrik gesagt? Aber so kann man doch wohl nicht mit Nachnamen heißen? Sie freut sich auf Deutsch. Sie werden eine ganz neue Sprache lernen!

Der Klassenlehrer hat eine seltsame Stellung eingenommen, er verschränkt hinter dem Kopf die Hände, als ob er dort etwas festhalten müßte. Aber dort ist nichts zu sehen, abgesehen von ein paar mit Pomade eingeschmierten Haarsträhnen, die nach oben wollen. Kein Lehrer in St. Croix hat sich je so hingestellt. Ab und zu geben seine Knie nach. Er diktiert in einem südnorwegischen Akzent den Stundenplan und teilt die Bücherlisten aus. Jetzt sollen sie einfach ruhig sitzenbleiben, dann kommen auch die anderen Lehrerinnen und Lehrer und erzählen ihnen, welche Bücher sie sich kaufen sollen, sagt er.

Und sie kommen, einer nach dem anderen. Mathematik, Englisch, Erdkunde. Ein Lehrer pro Fach! Kommen herein und stellen sich vor und reden erwachsen. Hat sich bisher jemals ein Erwachsener die Mühe gemacht, sich ihnen vorzustellen? Kommen herein und sind ihr Fach. Niemand hier kann alles. Denn das, was sie können, ist so schwierig, daß keiner mehr als ein Fach beherrscht. Rasch informieren sie über die Bücher. Søgaard und Lyche – Mathematik, Norwegisches Lesebuch für Höhere Schulen, Band I, Deutsche Grammatik, Statistische Tabellen, Skard und Midgaard – Weltgeschichte, Cappelens Schulatlas, Fjellbu – Entstehung des Christentums. Ankreuzen. Auf Wiedersehen. Manche kommen herein und öffnen die Tür nur einen Spalt breit, sehen sich um und lassen scheinbar zufällig ihren Blick durch die Klasse wandern. Ist hier die 1 B? Ja. Ach, ich dachte schon, ich hätte mich verirrt. Ich heiße Davidsen. Sich verirrt! Hat sich vielleicht irgendein Lehrer von St. Croix je verirrt? Das kann ja heiter werden.

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