Lisa drückte ihre kleine Schwester an sich. Fuhr ihr mit der Hand durchs Haar, sie waren sich sehr ähnlich, die beiden, mit ihren dunkelbraunen, runden Köpfen, nur war Lisa kleiner und molliger. „Kleine Evelyn, kleine Evelyn“, sagte Lisa. „Sie kommt doch zurück.“
„Ich weiß“, weinte Evelyn.
„Und denk daran, was du für schöne Briefe bekommen wirst! Sie schreibt herrliche Briefe, Evelyn.“
Inger hatte in all den Jahren eine lebhafte Korrespondenz mit Lisa geführt und ihr all die komischen Dinge erzählt, die in Fredrikstad passierten, und auch einzelne geheime Episoden im Herbst im Park – und Evelyn hoffte, Inger würde in ihren Briefen vertraulicher werden, als sie es im wirklichen Leben gewesen war, und sie fand Trost in Lisas Worten. Sie löste sich aus der Umarmung und trocknete ihre Tränen.
„Ich bin ja wie ein Kind!“ sagte sie und versuchte zu lächeln.
„Du bist mein Kind“, meinte Lisa.
„Aber ich habe solche Angst davor, nach Hause zu fahren!“ rief Evelyn, sie setzte sich an den Küchentisch und steckte sich eine Zigarette an.
Und Lisa weiß Bescheid. Sie weiß, was im Kopf ihrer kleinen Schwester vor sich geht und wie der Abschied alles hochwirbelt. Sie hat Evelyns ganzes Leben miterlebt – von dem Moment an, als sie im April 1918 in dem Haus geboren wurde, in dem sie jetzt standen. Und sie hatte sie immer geliebt, und nie hatte sie ein eigenes Kind bekommen. Wegen einer Dummheit, begangen in einer Seitenstraße in Paris, mit achtzehn Jahren. „Mein Kind“, sagte Lisa, wenn sie ein paar Gläser getrunken hatte, „mein Kind liegt im Rinnstein in Paris.“
Aber hier sitzt Evelyn mit nassen Augen, und Inger ist abgefahren, und in all den Jahren haben sie die Liebe bekommen, die dem Kind im Rinnstein zugedacht gewesen war. „Sie kommt zurück, Evelyn!“ – „Aber Lisa, ich habe Angst“, flüstert Evelyn. „Ich habe Angst davor, mit ihm allein zu sein.“
Das weiß Lisa, aber was soll sie darauf antworten? „Ich komme dich bald besuchen“, sagt sie. „Bestimmt?“ – „Ja, das verspreche ich. Bald.“ – „Aber kannst du ihn denn ertragen?“ – „Mich anzufassen, traut er sich nicht“, sagt Lisa.
Immer, wenn sie im Gjarmhaus sind, will Emilie, daß Evelyn zu ihr kommt, nur sie allein. Evelyn sitzt am Küchentisch und weiß, daß ihre Mutter wartet. Und sie graust sich. „Gehst du noch vor dem Essen ein bißchen zu ihr!“ fragt Lisa. „Ja“, sagt Evelyn gehorsam und geht.
Emilie Gjarm verbrachte ihren Lebensabend hauptsächlich in einem Sessel im ersten Stock ihrer Villa in Vinderen, wo sie Aussicht über den Bunnefjord hatte. Von hier aus verfolgte sie, was auf der Welt vor sich ging, las alle Zeitungen und führte eine ausgedehnte Korrespondenz. Sie hatte ein reiches Leben gelebt. Aber schmerzlos war es nicht gewesen, und der schlimmste Schmerz war, zu erleben, wie ihre beiden Vaterländer Krieg gegeneinander geführt hatten. „Landesverräterin“ hatten sie sie genannt. Landesverräterin! Sie, die diesem Land ihr Blut gegeben hatte. Sechs Kinder hatte sie ihm geboren! Sie hatte darüber einen Gedichtzyklus geschrieben, den sie „Zwischen zwei Ländern“ nannte und in einer Schublade versteckte.
Sie war zwar Mitglied der NSDAP gewesen. Aber war das denn verboten? Plötzlich war es verboten. Es hatte sie einen wesentlichen Teil ihres Vermögens gekostet, obwohl sie nichts anderes getan hatte, als in der Partei zu bleiben, als ihre Leute Norwegen besetzten. Sie hatte den Landesverrat mit einem ihrer Munch-Gemälde bezahlt, mit „Melancholie“ – ironischerweise. Hans Rudolf hatte es um die Jahrhundertwende aus Paris mitgebracht, als Munch ihm zweihundert Kronen schuldete. Zurückbezahlen konnte er nicht. Deshalb sagte Munch, als Hans Rudolf abreisen mußte: „Aber ich habe ein Bild.“
Hans Rudolf war ein großmütiger Mann, wenn es ihm in den Kram paßte, und nahm das Bild. Als ihr Bußgeldbescheid nach dem Landesverratsprozeß kam, sagten alle: „Warte! Bezahl jetzt nicht! Nach einer Weile werden sie nachgeben. Nur jetzt, in ihrem Siegesrausch, verhängen sie so hohe Strafen.“ Aber sie wollte bezahlen und die Sache hinter sich bringen. Deshalb lieferte sie das Bild ab und wartete auf den Abtransport nach Bjørnøya. Sie war ganz sicher, daß sie dorthin gebracht werden würde. Das hatten sie ja schließlich selber gesagt. Alle Landesverräter sollten nach Bjørnøya.
Niemand kam, um sie abzuholen. Deshalb suchte sie Zuflucht auf einem Bauernhof in Valdres. Und seither hatte nur der Glaube an den Herrn ihr geholfen.
Sie wartete jetzt auf Evelyn, ihr liebstes Kind. Sie hatte sie schon vor langer Zeit kommen hören. Aber Ørnulf hielt sie wohl auf, wie immer. Vierundzwanzig Stunden am Tag hatte er sie bei sich, und wenn sie endlich in Oslo war, wollte er sie immer noch bei sich haben.
Alles hatte sie versucht, um die Ehe zu verhindern. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie die kleine Evelyn immer bei sich behalten. Aber wenn eine neue kleine Zukunft unterwegs ist, was macht man dann! Emilie hatte immer gewußt, daß es ein Unglück war – von dem Moment an, als sie den jungen Studenten in ihr Haus kommen sah, groß, dunkel und eigensinnig. Hatte er im Laufe der Zeit nicht Hand an ihr Kind gelegt? In entsetzlichen Streitereien zwischen halb zwei und halb vier Uhr nachts war das passiert. Wenn die Leute es nur schaffen würden, ins Bett zu gehen, sähe die Welt anders aus. Und er, ihr jüngster Schwiegersohn, müßte als erster schlafengehen. Ein Teufel war er, wenn er trank.
Als das Entsetzliche geschah, hatte sie – mitten in ihrem Schmerz über den Verlust ihrer Enkelin – gehofft, die Trauer würde Ørnulf und Evelyn einander näher bringen, Helgas Verlust würde sein Gemüt sanfter machen, ihn veredeln, ja, ihm eine gewisse Ruhe schenken. So war es ihr ergangen. Warum also nicht auch ihm?
Aber so war es nicht gekommen. Statt dessen hatte er sich der Flasche zugewandt. Nie hatte er soviel getrunken wie damals. Und Evelyn saß allein da mit ihrer Last und trug eine neue Zukunft unter dem Herzen. Emilie hatte noch einmal gehofft. Durch das neue kleine Leben würde er doch wohl mild werden? Und eine Zeitlang hatte es auch so ausgesehen. Manchmal wirkten sie wie eine ziemlich glückliche kleine Familie, wenn sie kamen, und jetzt waren sie wieder zu viert. Und als Emilie zum erstenmal in Klein-Ellens schöne blaue Augen schaute, wußte sie, daß das Kind vom Herrn kam. Im Glanz ihrer Augen sah sie, daß Ellen geradewegs aus Seiner Hand kam.
Inger war aus anderem Stoff. In ihren Augen hatte immer Trotz gelegen. Emilie griff zu ihrem Opernglas und richtete es auf den fernen, blauen Teich dort hinten, den Oslofjord. Sie wußte, daß kaum Hoffnung bestand, die Blenheim aus dieser Entfernung zu sehen, aber schließlich kommt es doch auf den Gedanken an, dachte sie, stellte das Opernglas schärfer ein und musterte den Teil des Fjordes, den das Schiff ganz bestimmt nicht passierte.
„Lieber Gott, mach, daß Evelyn mit diesem Abschied fertig wird. Und laß Ørnulf ihr Leben nicht zerstören. Segne Ingers Aufenthalt in Schottland und laß sie als neues und liebevolles Enkelkind nach Hause kommen. Und, lieber Gott, laß mich so lange leben, daß ich deine große Gnade erlebe, erhört worden zu sein.“
Daran, daß Inger als Studentin zurückkehren, sich in Oslo niederlassen und eine hervorragende akademische Karriere machen würde, zweifelte sie nicht einen Augenblick. Deshalb brauchte sie dafür auch nicht zu beten.
Nun klopfte endlich Evelyn an die Tür. „Evelyn, mein geliebtes Kind!“ rief Emilie und breitete beide Arme so aus, daß sie wie ein sitzendes T aussah. „Ich habe das Schiff gesehen!“ Evelyn stürzte zum Fenster, weil sie es auch sehen wollte. Gleichzeitig kniete sie halb in den Armen ihrer Mutter.
„Es ist gerade verschwunden“, erklärte Emilie. „Aber nicht ohne Segen. So, mein Kind, jetzt setz dich zu mir.“
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