„Well“, sagt Mrs. Mayfield zu Inger, nachdem sie abgeräumt und gespült haben. „Du bist hier im Haus wie eine Tochter. Das heißt, für dich gelten dieselben Regeln wie für Sheila, und ich kann sie dir genausogut jetzt schon sagen. Du hast in der Woche spätestens um halb elf und sonntags spätestens um zehn zu Hause zu sein. Du mußt deine Wäsche einmal in der Woche waschen, und du darfst nicht in The International Club gehen und dich nicht mit Negern treffen.“
Das wollen wir erst mal sehen, denkt Inger. Die hat ja keine Ahnung, wen sie sich da ins Haus geholt hat.
Hätte Inger im voraus gewußt, wie grausam es ist, ins Ausland zu kommen, dann wäre sie nie gefahren. Aber nun war sie hier. Im Ausland mußte in drei Stockwerken staubgesaugt werden – mit the sweeper und the Hoover, je nachdem. The sweeper war ein gelbes Ding mit Rollen. The Hoover war ein Staubsauger, an dessen Stange eine braune Tüte hing. Ich fahr’ wieder, dachte Inger. Sie bekam auch the mopper. The mopper war ein langer Stiel, der unten einen Wuschelkopf hatte, und sowas hatte sie bisher nur im Kino gesehen. Deshalb hatte sie in dem Irrtum gelebt, dieses Ding sei bloß ein Witz. Marilyn Monroe wischt Staub von ihrem rosa Telefon.
Überhaupt erwies sich vieles, was sie bisher für einen Witz gehalten hatte, als bitterer Ernst. Sie stand im drawing-room upstairs und wurde beim Gedanken an das bevorstehende Jahr von schwindelnder Langeweile erfüllt. Was ihr half, waren die Augen von Fredrikstad. Sie waren an der Decke und in den Wänden und überall und folgten ihr mit ungläubigem Blick. Und dann lachten sie sich vom Fleck weg kaputt.
„Hast du keine apron?“ fragte Mrs. Mayfield. Die Fredrikstad-Augen sahen gespannt zu. „An apron !“ wiederholte Mrs. Mayfield lauter, als ob allein dadurch die Bedeutung klarer würde. Die haarsträubende Tatsache ging Inger und der Bevölkerung von ganz Fredrikstad gleichzeitig auf: Sie war ohne Schürze in die Welt gezogen!
„Dust the house every day“, sagte Mrs. Mayfield. Dust, dust, dust. Der Staub! Wenn sie den doch bloß entdecken könnte! Überall sah sie nur glänzende braune Flächen. Sie mußte montags den Hoover upstairs und den sweeper downstairs benutzen, dienstags den sweeper upstairs und den Hoover downstairs, the Hoover upstairs, dann the sweeper downstairs, the Hoover upstairs, and the sweeper und the Hoover and the Hoover and the sweeper. In the attic, einem von einer Schranktür versteckten Zimmer ein Stock höher, konnte sie nur the sweeper benutzen, die Schnur von the Hoover war nicht lang genug.
Vom einen Tag zum anderen wurde sie zu einer Null reduziert. Es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, wenn sie darin etwas mehr Übung gehabt hätte. Aber sie hatte keine Erfahrungen als Null. Da stand sie nun mit ihrem Abitur. Sie wußte, daß Hargreaves seine Spinning-Jenny im Jahre 1764 erfunden hatte, sie wußte, was eine turn-pike road war und daß England und Schottland 1707 durch den Act of Union vereint worden waren. Aber was Wäscheklammer heißt, wußte sie nicht. Oder Wasserhahn. Oder Mülltonne. Und das war wirklich das einzige, was sie hätte wissen müssen.
Sie wischte von upstairs nach downstairs auf den elf Geländerpfosten Staub, und vor allem in diesen Pfosten lag die Unendlichkeit. Von nun ab besteht mein Wert in meiner Fähigkeit, Staub zu entfernen. What a waste. What a waste of me!
Sie schaute verwundert auf. Sie hatte ihren ersten englischen Gedanken gedacht.
Rosenkohl hieß Brussels Sprouts. Wer hätte das gedacht? Cauliflower war auch witzig. Erst der Kohl, dann die Blume. Sie war hergekommen, um die Sprache zu lernen. Und bereits nach drei Wochen hatte sie sehr viele neue Wörter und Ausdrücke gelernt. Sie weiß jetzt, daß Wäscheklammer a peg heißt, eine Mülltonne heißt a pig pail, und ein Spülbecken heißt a sink – und jeden Freitag werden die Tonnen mit der Asche auf den Bürgersteig gestellt und geleert, und das heißt to put the bucket out (nicht: to put out the bucket), und ein Wasserhahn heißt a tap, der Herd heißt the cooker, rote Beete heißt beetroot, and the Hoover and the sweeper, and the sweeper and the Hoover, do the drawing-room, do the fireplace, do the potatoes, do, do, do, put, put, put, put the garbage out, put it there, the silver goes in the dining room, thank you, Inger, aber mehr als das alles und darüber hinaus und vom ersten Moment an in diesem neuen Land hat sie einen Ausdruck gehört, und dieser Ausdruck lautet: It’s not suitable.
It’s not suitable. Sie weiß, das bedeutet: „Das gehört sich nicht.“ Nicht, daß dieser Ausdruck nicht auch in Fredrikstad verwendet würde, aber nichts konnte sich mit dem tadelnden „It’s not suitable“ messen. Inger lernt. Sie lernt Englisch, daß die Schwarte kracht. Bis es ihr kalt den Rücken hinunterläuft.
Glen sitzt da und ißt. Der Geruch stammt doch nicht von ihm. Sondern vom Gas. Das weiß sie jetzt. Sie verbindet den Geruch bloß mit ihm. Er ruft seine Wünsche über den Tisch: „Bread, please! Tea, please!“, mit flackerndem Blick, und Wellen der Röte jagen über sein Gesicht. Dieser Junge ist nicht wie andere Jungen. Er blickt seinem Vater nie in die Augen. Abends näht er an einer riesigen Handarbeit. „Was wird das denn?“ fragt Inger. „A rug!“ ruft er verzweifelt dem fireplace zu. Dann verstummt er. Inger begreift rasch, daß er zurückgeblieben ist. So heißt es zu Hause, wenn man sich in Nygaardsgata so aufführt. „Er ist nervös“, sagt Mrs. Mayfield einfach. Darüber spricht man nicht. It’s not suitable.
Sheila kommt hereingestürzt. „I’m fed up with this house. Hell’s bloody teeth.“ Wunderbare Ausdrücke strömen aus ihrem Mund. Blutige Höllenzähne. Inger lacht begeistert. „Stop it, Sheila. It’s not suitable!“ sagt Mrs. Mayfield. Aber Inger findet es unheimlich suitable. Sofort hat sie das Bedürfnis, daß Sheila sie ausstehen kann. Es hilft nicht, daß sie gleich von Anfang an beschlossen hat, Sheila kein bißchen lieber zu mögen, als Sheila sie mag. Sie mag sie. Sie sieht sie. Sheila steckt den Kopf mit dem Sturzhelm und dem etwas vorstehenden Mund zur Tür herein. Sie trägt lange grüne Stretchhosen oder dunkelkarierte Röcke und einen bunten gestreiften Schal der Edinburgh University, der hinter ihr herweht. Die Farben zeigen die Fakultät an. Sie wirft den Sturzhelm mit voller Wucht auf den Tisch.
„Oh bloody hell! I’ll freeze to death on that bike one of these days. Look at these legs! They’re all purple!“ Inger will antworten: „Kein Wunder, daß du lila Beine kriegst, wenn du in Seidenstrümpfen auf diesem Moped durch die Gegend fährst!“ Aber der Satz bricht schon bei „kein Wunder“ ab. Kein Wunder, daß sie „kein Wunder“ sagen möchte. Vom ersten Tag an ist ihr klar, daß es egal ist, wie viele englische Wörter sie in ihrem Mund aufstapelt. Sie werden immer so unbeholfen sein und so lange brauchen, daß der Witz daran kaputtgeht. Sie muß einsehen: Sie kann Sheila nicht zum Lachen bringen.
Die Mädchen an der Sonnenwand der Gelben Anstalt zum Lachen zu bringen, während die Jungen brüllend über den Tischen hingen – das war die größte und selbstverständlichste Freude des Lebens gewesen, eines Lebens, in dem sie ansonsten zu dick war und kein Glück bei den Jungen hatte. Und hier stand sie nun – und „kein Wunder“ steckte wie klitschiges Kartoffelpüree in ihrem Hals.
Aber Sheila läßt sich davon nicht stören. Sie ist fast immer gut gelaunt, und sie gehört zu den Menschen, die endlos weiterreden können und eine Menge Fragen stellen, die sie selber beantworten, andere Beiträge sind gar nicht nötig. Sheila ist groß und hat rötliche Locken, die sie jeden Abend auf curlers dreht, sie hat diese großen, munteren, gelbbraunen Feuerzeugaugen, die Inger voll ansehen, und sie sagt: „Ach, Inger! Du hast es gut! Du kriegst jeden Tag Post. Ich kriege nie welche.“ Und Inger erwidert: „That’s because I write them.“
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