Wir nickten alle wie auf Kommando, dann setzten wir uns ins Gras auf die mitgebrachte Decke. Die Elfe ließ sich vor uns auf einem Baumstrunk nieder.
„Packt jetzt eure Mahlzeit aus!“, befahl sie.
„Woher weißt du denn ...“ Weiter kam ich mit meiner Frage nicht, denn schon fiel mir Leo ins Wort.
„Ich kann euer Essen riechen, also raus damit!“ Ihre Augen funkelten und sie hatte einen zornigen Unterton in der Stimme.
Benni flüsterte mir zu: „Die macht mir richtig Angst.“
Ich packte zwei Wurstsemmeln und ein Leberstreichwurstbrot aus und auch die anderen kramten ihr mitgebrachtes Essen aus den Rucksäcken. Wir legten alles auf die Decke vor Leos Füße. Sie kniete sich hin und suchte mit fachkundigem Blick die besten Sachen heraus, nahm sie mit zittrigen Fingern und begann, alles gierig in sich hineinzuschlingen. Wir saßen nur da und staunten, wie viel dieses kleine Wesen essen konnte.
Zwischen zwei Bissen murmelte Leo uns zu: „Esst nur, esst! Es ist viel schöner, ein Mahl in netter Gesellschaft einzunehmen.“
„Wer sagt, dass die Gesellschaft nett ist?“, raunte Georg mir zu.
Aber wir nahmen gehorsam von dem, was Leo uns übrig gelassen hatte, und begannen ebenfalls zu essen. Während sie unablässig kaute, traf uns ab und zu ein zufriedener Blick aus ihren dunklen Augen. Der Elfe, oder was auch immer sie war, machte das Picknick im Wald mit uns Jungen sichtlich Spaß. In kürzester Zeit hatte sie die Hälfte unserer mitgebrachten Vorräte aufgegessen, schließlich trank sie noch meine Cola leer, dann rülpste sie und an einen Baumstamm gelehnt streckte sie die Beine aus und schloss die Augen. Wendel schubste mich und auch Georg machte Zeichen, nur Benni starrte vor sich hin und schien nichts mitzubekommen, sodass ich mich schon um ihn sorgte. Ich schlich zu ihm und flüsterte: „Los, komm, wir hauen ab, solange sie schläft.“
Langsam und vorsichtig versuchten wir uns davonzustehlen, doch wir waren noch keine fünf Schritte von ihr entfernt, als wir schon ihre schrille Stimme hinter uns hörten: „Halt, wohin so eilig? Ihr wollt doch nicht ohne mich gehen, oder?“ Resigniert blieben wir stehen und warteten, bis sie zu uns kam. „Bevor ich euch begleite, sollten wir noch beraten, wie wir es am besten anstellen.“
„Wie wir was am besten anstellen?“, fragte ich ratlos.
„Nun, wie es zu schaffen ist, mich ungesehen zu euch mitzunehmen.“
„Zu uns mitnehmen?“, staunten wir im Chor. „Das geht nicht, das ist ganz unmöglich. Du kannst nicht zu uns mitkommen“, beteuerten wir abwechselnd.
All die schrecklichen Dinge, die diesem Wesen in unserer Welt zustoßen könnten, gingen uns plötzlich durch den Kopf, und obwohl Leo nicht sehr sympathisch war, sorgten wir uns plötzlich irgendwie um sie.
„Du kannst unmöglich mit, wir sind uns gar nicht sicher, ob wir das hier nicht alles nur träumen, aber wenn du real bist und kein gemeinsames Hirngespinst von uns vieren, dann bist du in dieser Welt in großer Gefahr. Wo immer du hergekommen bist, bitte geh wieder dorthin zurück“, sagte Wendel.
„Ja!“, stieß Benni hervor. „Geh weg, geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist!“ Es klang ziemlich wild und panisch.
Das Elfenmädchen blinzelte verwirrt, als hätte jemand nach ihr geschlagen. „Ihr wollt mich nicht, ihr wollt mich also auch nicht! Ich habe meine Familie verlassen und lebe seit einigen Wochen hier im Wald. Ich ernähre mich von Menschenfutter und habe schon begonnen, mich zu verändern, und nun wollt ihr mich nicht!“ Sie hatte die Worte atemlos herausgestoßen, nun stand sie keuchend vor uns und starrte uns an.
„Halt, warte mal!“, rief Georg. „Was soll das heißen? Ihr wollt mich also auch nicht und der Kram von wegen verändern und so?“
„Das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich euch ein anderes Mal, jetzt müssen wir einen Plan schmieden, wie ich ungesehen zu euch mitkommen kann, in eure Menschenwelt.“ Leo hatte sich erstaunlich schnell wieder gefasst.
„Du kapierst es nicht, oder?“ Georg hatte wieder diesen aggressiven Unterton, den er immer bekommt, wenn er Stress hat. „Du kannst nicht mit zu uns kommen. Nein, nada ... aus!“
„Okay, jetzt beruhigen wir uns alle erst einmal“, schlug ich vor. „Zu Hause rechnen sie erst am späteren Nachmittag mit uns. Sicher wäre es auffällig, wenn wir schon nach zwei Stunden wieder zurück wären. Wir können uns also genauso gut hier auf die Decke setzen und uns deine Geschichte anhören. Danach entscheiden wir, was wir machen.“
„Aber es gibt nichts mehr zu essen!“ Leo hatte wieder ihre Unterlippe vorgeschoben.
„Du setzt dich jetzt dahin und erzählst uns alles, sonst ...“ Doch ehe Georg fortfahren konnte, hatte sich Leo schon zu uns auf die Decke gesetzt.
„Es ist eine sehr lange Geschichte“, begann sie. „Ich weiß nicht, ob sie euch gefallen wird. Ich kann auch nicht so gut Geschichten erzählen wie mein Vater ...“
„Fang endlich an!“, brüllte Georg.
„Nun gut“, zierte sich Leo noch ein bisschen, „es begann alles mit meiner Geburt vor vielen, vielen Jahren.“
„Na, so lange kann das gar nicht her sein, du bist ja noch so klein.“ Ich verstummte prompt, als ich ihren finsteren Blick sah.
„Es begann also alles am Tage meiner Geburt vor sehr vielen Jahren ...“
*
*
„In der Elfenwelt herrschen andere Gesetze. Man kann sie mit der Menschenwelt nicht vergleichen. Wenn eine Elfe geboren wird, ist das immer ein großes Fest, ein Grund zur Freude, ebenso wie bei euch Menschen, aber hier enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Mit der Geburt erwirbt man Unsterblichkeit, das heißt, wenn ein Elfenleben begonnen hat, dauert es bis in alle Ewigkeit. Wir fürchten und meiden die Menschen, weil sie kriegerisch und grausam sind, und nur wenige von euch haben uns je zu Gesicht bekommen. Doch diese wenigen waren so verzaubert, dass sich viele Geschichten und Legenden um unsere Welt ranken, denn die Menschen sind fasziniert von der Schönheit und Leichtigkeit unseres Daseins. Sie ahnen, dass es bei uns Glück und Frieden wie nirgendwo sonst gibt, und es erscheint ihnen als das Paradies, nach dem ihr Menschen immer sucht und strebt. Manch einer wollte schon in unsere Welt eindringen, um unsere Geheimnisse zu erfahren, vor allem die Unsterblichkeit neidet ihr uns.“
Wir starrten Leo mit offenen Mündern ungläubig an, während sie bereits weitersprach.
„Also, ich wurde als Tochter des Elfenkönigs Brunhold und seiner Königin Esmilda geboren. Doch etwas ging schief.“
Ich spürte einen heftigen Stoß in die Rippen von Georgs Ellenbogen und er raunte an meinem linken Ohr: „Das schaut mir ganz danach aus!“
„Ich war von Beginn an anders. Mir fehlte es an nichts, ich hatte alles und doch war ich unglücklich. Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir, ich sei für dieses Leben nicht geschaffen. Ich sehnte mich und wusste nicht wonach. Dann sah ich eines Nachts einen Jäger. Er hockte auf einem Turm aus Holz, den ihr Menschen Hochsitz nennt, und wartete. Ich wusste nichts über die Menschen, ich war noch zu jung. Eure grausame Gewohnheit, Tieren aufzulauern, ihnen nachzustellen und sie dann zu töten, war mir damals noch nicht bekannt. Ich sah nur diesen Menschen, groß und stark, ganz still dasitzen. Ich betrachtete ihn ganz aus der Nähe. Ich glaube, er schlief, denn er rührte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen, aber er hatte schöne Gesichtszüge. Ich war fasziniert und wusste nicht warum. Von da an versuchte ich, alles über die Menschen zu erfahren, und je mehr ich wusste, desto größer wurde meine Überzeugung, dass ich in der Menschenwelt leben wollte. Alles schien mir besser und erstrebenswerter als mein bisheriges Dasein, ich fand das Elfenleben plötzlich nur noch langweilig, mit all dem Tanzen und Singen. Schließlich berichtete eine Dienerin meinem Vater von meiner Passion. Ich hatte inzwischen schon so viel über euch herausgefunden und wurde immer neugieriger, obwohl so vieles, was ich erfuhr, alles andere als schön war. Mein Vater jedoch war vollkommen verzweifelt, er verbot mir, mich weiter mit der Menschenwelt zu befassen, und sollte ich nicht gehorchen, würde er mich weit weg an die Ränder des Elfenreiches verbannen, dorthin, wo das Böse wohnt. Ich wusste damals noch nicht, dass das Böse eure Welt ist.“
Читать дальше