Man könnte annehmen, der Zahlmeister Cassagnac sei von den eingedrungenen Apachen ermordet worden. Das würde natürlich voraussetzen, daß den Mördern die Tatsache bekannt war: Cassagnac trug eine größere Geldsumme bei sich! Woher sollen die Apachen das gewußt haben? Die Polizei hat es ihnen doch nicht vorher gesagt, und das ist bis jetzt das einzige Verdienst, das man ihr in dieser mysteriösen Angelegenheit zubilligen kann.
Der Weg Cassagnacs zu dem Hause des Herrn Dr. Berton läßt sich genau verfolgen: Er hob die Summe von 20.000 Francs bei der Société Méditerranée de Banque in der Rue de la République ab und begab sich von da sofort nach Hause. Die Wohnung Cassagnacs liegt in der Rue Breteuil. Er blieb einige Stunden bei seiner Frau, dann ging er zu Dr. Berton. Auf dem Wege dorthin hielt er sich nirgends auf. Woher also sollen Apachen gewußt haben, daß Herr Cassagnac 20.000 Francs in der Tasche hatte? Die Polizei hat keinen Anhaltspunkt für ein Verbrechen! Parbleu! Hält man das für möglich? Sie findet keinen Blutstropfen. Aber kann man Menschen nicht töten, ohne Blut zu vergießen? Die Polizei sagt: ‚Die Annahme, die Banditen hätten den leblosen oder bewußtlosen Körper des Zahlmeisters mit sich geschleppt, ist kaum haltbar. Die eifrigsten Nachforschungen im Hause, die genauesten Untersuchungen der kleinsten Merkmale, die in dem polizeilichen Laboratorium vorgenommen wurden, konnten keinen Nachweis für einen Gewaltakt gegen den Zahlmeister erbringen. Man hätte doch auf dem Fenstersims, an einem umgeworfenen Sessel oder sonstwo Wollfäden von dem Mantel des Verschleppten finden müssen! Man hätte Haare entdecken können! Aber die sofort vorgenommene mikroskopische Untersuchung des Teppichs ergab weder Schleifspuren noch sonstige Anhaltspunkte. Die Photographien der vorgefundenen Fingerabdrücke brachten nicht mehr Erfolg.‘ Dies ist die Ansicht der Polizei! Ich erlaube mir, zu behaupten, daß Verbrecher, die nach einem so wohlerwogenen Plan arbeiten, durchaus mit den Spuren rechnen, die ein mit Gewalt verschleppter Körper hinterläßt. Der Zahlmeister war schlank, mittelgroß. Es konnte für mehrere Männer nicht schwer gewesen sein, den Toten aus dem Fenster zu heben, ohne daß ‚Wollspuren‘ hinterblieben. Aber warum nimmt die Polizei nicht an, der Zahlmeister sei entführt worden? Warum geht sie über diese Möglichkeit stillschweigend hinweg? Glaubt sie nicht daran? Nein, sie glaubt nicht daran, weil sie keinen Grund für die Entführung eines Marseiller Zahlmeisters entdecken kann. Man höre! Dieser noch junge und erst seit kurzem verheiratete Cassagnac hatte ein ziemlich abwechslungsreiches Leben hinter sich. Wie — wenn nun eine Frau die Hand im Spiele hätte? Viele werden diese Annahme phantastisch finden. Aber es ist gar nicht mehr neu, Menschen zu entführen. Und Frauen haben schon durch ihre Helfershelfer viel schwierigere Dinge fertiggebracht. Damals, als Madame Steinheil in Paris wegen Gattenmordes angeklagt, dann aber freigesprochen wurde, hatte die Justiz dieser Frau ganz andere, viel ungeheuerlichere Pläne zugetraut!
Ich will keine Schlüsse ziehen. Ich bin Journalist. Aber ich stelle an die Polizei und die gesamte Öffentlichkeit folgende Fragen:
Wenn die Apachen wirklich Kenntnis davon hatten, daß Cassagnac eine große Geldsumme bei sich führte — warum überfielen sie ihn nicht in einer der dunklen Seitenstraßen, die das Haus des Dr. Berton flankieren?
Warum ließen sie ihr Opfer erst in dem Hause Sicherheit finden und wählten dann diesen mühevollen und gefährlichen Überfall?
Denn dieser Überfall war riskant! — Konnte nicht Dr. Berton jeden Augenblick zurückkehren?
Wußten das die Apachen nicht?
Oder wußten sie, daß Dr. Berton erst gegen Morgengrauen heimkehren würde?
Woher wußten sie das?
Wem hat denn Cassagnac nachweislich mitgeteilt, daß er 20.000 Francs bei sich trug?
Seiner Frau. Sie gibt es zu.
Einige Militärpersonen wußten es.
Und Frau Dr. Berton, der Cassagnac von der Geldsumme erzählt hat — nach ihrer eigenen Aussage.
Hier ist irgendwo der Schlüssel zu dem Geheimnis des Verschwindens Cassagnacs!
Die Polizei sagt:
‚Die nochmals vorgenommene Untersuchung der Räume, in die die Verbrecher eingedrungen waren, des Arbeitszimmers, des Wartezimmers und des Ordinationsraumes, führte zu nichts!‘
Nun, ich habe an einer Stelle des Wartezimmers eine ganz neue Verletzung der Tapete festgestellt. Gewiß, sie beweist nichts. Wer unsere Apachen kennt, wird ihnen zutrauen, auch ohne Verletzung der Zimmertapete einen Menschen kaltzumachen. Ich kenne ihre Methode: Zwei werfen sich blitzschnell an die Beine ihres Opfers und ziehen sie unter ihm fort. Sie halten die Beine fest, während zwei andere den fallenden Körper auffangen und den Unglücklichen ohne Lärm zu ewigem Schweigen bringen.
Wie dem auch sei: Ob ein Kampf stattgefunden hat, bei dem die Tapete verletzt wurde, oder nicht: Cassagnac muß noch im Hause des Herrn Dr. Berton zu finden sein! —
Die Banditen hatten Zeit!
Sie haben sich die halbe Nacht in dem Ordinationszimmer des Arztes aufgehalten und sich aus der Küche mit Bier, Wein und eßbaren Vorräten versorgt. Die Flaschen standen noch umher, als ich das Zimmer mit Genehmigung des Herrn Chefs des Hôtel de la Police besichtigte. Das war aber auch alles, was die Bande als Beweis ihrer Tätigkeit für die Polizei zurückgelassen hatte. Das Präsidium hat sofort eine Razzia im Hafenviertel angesetzt. Aber diese Maßnahme wirkt nur als Demonstration, zu einem Ergebnis führt sie nicht. Wir kennen ja diese Razzien in den schmutzigen Kneipen, das Aufgreifen von Niggern und Chinesen, die man schließlich wieder freilassen muß.
Nun aber: Die Polizei vermutet, daß der Zahlmeister mit den Verbrechern im Bunde gewesen ist!
Ja, ‚diese Vermutung gewinnt immer mehr an Wahrscheinlichkeit!‘ sagt die Polizei.
Aber Herr Dr. Berton bestreitet entschieden eine solche Möglichkeit! Sein Freund hatte wohl kostspielige Liebhabereien, aber es läßt sich nicht nachweisen, daß er verschuldet war, und Herr Dr. Berton stellt ihm das beste Zeugnis aus.
Meint die Polizei vielleicht, Herr Dr. Berton und Herr Cassagnac steckten unter einer Decke und teilten nun den Raub? Herr Dr. Berton möge mir diesen Scherz verzeihen, aber ich muß die verworrenen Anschauungen der Behörde ad absurdum führen!
Cassagnac lebte in glücklicher Ehe. Ich habe seine Frau gesprochen, sie schwört auf seine Unschuld.
Nun sagt die Behörde: ‚Wir haben oft genug die seltsamsten Erfahrungen mit Doppelnaturen gemacht. In diesem Falle gibt es eben nur die eine Lösung: Cassagnac hat, um sein Verschwinden mit den 20.000 Francs zu rechtfertigen, diese seltsame Geschichte in Szene gesetzt. Er mag naiv genug sein, zu glauben, man würde ihn für tot erklären und sich in kurzer Zeit über sein Verschwinden beruhigen.‘ —
Nun, ich für meine Person teile diese Ansicht der Polizei nicht. So naiv ist kein Mensch, der 20.000 Francs unterschlägt. Und was hätte er erreicht? Seinen Leichnam findet man nicht. Muß er sich nicht sagen, daß man ihn nun nicht für tot halten wird? Wozu dann die Komödie?
Wozu brauchte Cassagnac dann noch ein Aufgebot von Apachen, die doch nur Mitwisser und Mitnutznießer des Raubes sind?
Dies sind meine Fragen, die ich an die Intelligenz des Marseiller Publikums stelle!“
*
Die Leser dieses Artikels waren nicht klüger als vorher, aber die Fragen, die Peytral gestellt hatte, waren logisch. Man diskutierte eifrig, aber die Polizei hüllte sich in Stillschweigen, und es schien, als sei sie vollkommen hilflos.
Doch da war noch der Detektiv der Pariser Sûreté. Durand kam etwa dreißig Stunden nach jenem Überfall in Marseille an, um zu heiraten. Die hübsche, zwanzigjährige Modistin wartete bereits voll Ungeduld auf den Verlobten. Sie hatte keine Zeit mehr, ihn von der Bahn abzuholen, sie trug schon das Brautkleid. Durand sollte sich sofort zu ihr begeben, man erwartete das Paar nun endlich auf dem Standesamt.
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