Robert Heymann
Ein Weib-ein Narr-ein Mörder
Saga
Ein Weib-ein Narr-ein Mörder
German
© 1930 Robert Heymann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711503720
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Nachdem in einem der sensationellsten Prozesse der neuesten Zeit gegen den Schuldigen die Todesstrafe ausgesprochen worden war, schien dieser Kriminalfall, der nicht nur das südfranzösische Volk in Atem gehalten, sondern die ganze Welt interessiert hatte, für immer abgeschlossen. Aber der Präsident der französischen Republik wandelte das Todesurteil auf dem Gnadenwege in „lebenslängliche Verbannung“ um — Deportation nach Cayenne! Der Urheber eines der abscheulichsten Verbrechen schien vergessen — bis die Zeitungen die Erinnerung an ihn wieder aufleben ließen. Es war ihm geglückt, aus der Hölle von Guyana zu entfliehen und nach Venezuela zu entkommen. Dort soll der Flüchtling ein neues Leben begonnen haben; ein Pariser Journalist behauptet, er habe ihn selbst gesprochen. Wie dem auch sei: Dieser Prozeß, den ich in dem vorliegenden Roman behandle, ist ebenso erschütternd durch die problematische Persönlichkeit des Verbrechers wie durch die Seltsamkeit der Ereignisse, die zu seiner Entlarvung führten.
Die Grenzgebiete der menschlichen Seele sind auch für den erfahrensten Psychologen größtenteils noch eine terra incognita. Alle Urteile der Sachverständigen sind mehr oder weniger subjektive Erkenntnisse und müssen es bleiben. Der Streit, ob der Verbrecher geboren wird, das heißt, ob er seine Anlagen schon mit in’s Leben bringt, oder ob Schuld und Sühne mehr als schicksalhafte Belastung sind, wird kaum jemals entschieden werden können. Der Verbrecher in dem vorliegenden Roman ist trotz der Grausamkeit, mit der er die Tat beging, die ihn selbst vernichtete, im Sinne der Dramen des großen Aeschylos eine tragische Gestalt. Seine Richter hielten ihn für zurechnungsfähig. In meinen Schilderungen entferne ich mich wenig von den Tatsachen, aber ich habe seelische Abgründe angedeutet, die nicht nur mit „dichterischer Freiheit“ erklärt werden sollen. In uns allen schlummert die Schuld. Manchmal weckt ein ungewöhnliches Ereignis eine Leidenschaft, die in uns auflodert, Instinkte, die unseren Abscheu erregen. Unsere durch Vererbung und Erziehung aufgebauten Hemmungen bewahren uns. Aber die Liebe in einer ihrer bunten Spielarten stürzt wie eine Sturmflut über alle Dämme hinweg, und urplötzlich enthüllt sich in dem Kulturmenschen der Gegenwart der furchtbare Dämon Kain. —
In diesem Roman galt es nichts zu beweisen. Ich habe eine ungeheuerliche Begebenheit dargestellt, und wenn es mir gelungen ist, die Nachdenklichkeit des Lesers geweckt zu haben, so hat mein Werk seine Aufgabe erfüllt: unterhalten zu haben, ohne nach der Lektüre vergessen zu werden.
Berlin, Juni 1930.
Robert Heymann.
Einige Stunden hinter Paris hatte der Expreßzug einen unfreiwilligen Aufenthalt. Irgendein Signal — oder lag ein Gegenstand auf den Schienen?
Niemand erfuhr es, obgleich die Passagiere in die größte Aufregung gerieten, als die Bremsen plötzlich scharf anzogen, die Wagen aneinanderstießen und der Zug mit ohrenbetäubendem Zischen und Schleifen zum Stehen gebracht wurde. Auch die Dame und die beiden Herren im Abteil Erster Klasse sahen sich erschrocken an. Es dämmerte schon, ein goldgesättigter Winterabend rieselte über die weißen Felder vor den Fenstern. Die Gegend war ohne weiteren Reiz, aber die verschneiten Bäume, die Äcker und Wiesen schwammen in einem warmen Rot, das die sinkende Sonne ausströmte. Eine zärtliche Stimmung lag über den Dingen, aber diese Stimmung war jetzt unterbrochen durch lautes Fragen und Rufen. Die Beamten sprangen auf den tief gelegenen Feldweg hinab, um nach der Ursache des Haltens zu sehen, die Passagiere rissen die Fenster und Türen auf. Niemand sah so den grauen Menschen, grau von Schmutz und Ungewaschenheit, der auf der entgegengesetzten Seite hochkletterte und sich in einen Wagen schwang. Er stand einige Sekunden atemlos und lauschend hinter den Rücken der aus den Fenstern sehenden Passagiere. Dann riß er eine kleine Tür auf, die zu dem Raum führte, der der Bedienungsfrau des Zuges als Aufenthalt diente. Zum Glück war sie nicht da, sie befand sich, ebenso aufgeregt wie alle Mitreisenden, in einem entfernten Wagen.
Als der Wagen Erster Klasse, wie es schien, ins Schleudern geriet, war die Dame leichenblaß geworden. Die beiden Herren warfen sich einen Blick zu, in dem sich offener Schrecken spiegelte. Dann aber, als der Expreßzug zum Stehen kam und offensichtlich keine Gefahr vorhanden war, zeigte die Dame ein völlig kopfloses Benehmen. Sie sprang auf und stürzte wie gepeitscht aus dem Abteil. Dr. Berton, der ihr gegenübersaß, hatte das Fenster heruntergerissen und sich mit einem Blick überzeugt, daß kein Unglück geschehen war. Er rief der Reisegefährtin lachend nach, sie möchte sich beruhigen, aber er fand kein Gehör. Die Dame überzeugte sich auch keineswegs, ob wirklich ein Grund zur Beunruhigung vorlag. Sie eilte in überstürzter Hast durch die einzelnen Wagen. Vor jedem Abteil machte sie sekundenlang Halt und warf einen schnellen und verwirrten Blick in das Innere. Enttäuscht lief sie dann weiter.
Die erste Erregung der Passagiere hatte sich in befreites Lachen und laute Scherze aufgelöst. Aber diese elegante und fremdländische junge Dame schien noch erregter zu werden. Sie suchte jemand. Sonst hätte sie nicht Türen geöffnet, die in Räume führten, die kein Interesse für sie haben konnten. Mit einem seltsamen Instinkt blickte sie auch in den engen Raum der Bediensteten des Zuges, ohne das Schild zu beachten, das die Aufschrift trug: „Eintritt untersagt“.
Sie sah sich dem geheimnisvollen grauen Manne gegenüber. Sie blieb wie erstarrt an der Tür stehen und kämpfte gegen eine Ohnmacht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Unfähig, ein Wort hervorzubringen, überließ sie ihre Hände willenlos diesem Strolch, den die Landstraße ausgespien hatte. Auf den Knien liegend, bedeckte er ihre schmalen, hellen Mädchenhände mit leidenschaftlichen Küssen, unzusammenhängende Worte stammelnd.
„Du bist also gekommen!“ bringt sie endlich hervor.
„Du hast mich gefunden!“ flüstert der Landstreicher in überströmender Freude.
„Charles!“ — die Dame.
„Roxane!“ — der Mann.
Welcher Gegensatz zwischen beiden! Die Dame willenlos, kraftlos an der Tür lehnend, der Mensch zu ihren Füßen. Sie, aufschluchzend in einer endlich gelösten, nicht mehr zu ertragenden Spannung, er, lachend, ohne es zu wissen, daß er lachte, dem Augenblick hingegeben, beide ohne Bewußtsein ihrer Lage, losgerissen von allen Befürchtungen und Gefahren, zwei Menschen, die sich über die Ewigkeit hinweg gefunden haben.
„Oh du! Du! Roxane! Meine Geliebte! Meine Tapfere, Treue! Wie soll ich dir danken!“
„Sprich nicht! Sprich nicht! Mein armer, armer Junge!“
Ihre Hand streicht wie ein heller Schatten über sein dunkles Haar.
„Nun wird alles gut —“
„Sei vorsichtig, Charles! Zum zweiten Male könnte ich es nicht ertragen!“
„Du liebst mich noch? Roxane! Roxane! Du liebst mich noch!“
Er schließt die Arme um ihre Knie. Sie fühlt sein Haupt, sein Gesicht, die Wärme seines Atems dringt in ihre Glieder.
„Nach so viel Jahren!“ stammelt sie.
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