„Mensch, dauert das lange!“ sagt der Mann draußen. Er ist vor ein paar Tagen in der nahen Eisenbahnwerkstatt eingestellt worden. François läßt das Glas mit Wasser volllaufen und geht hinaus. Der Bursche trinkt in langen Zügen. Vielleicht bin ich nicht mehr jung genug für Betsey, denkt François. Man müßte so ein junger Kerl sein wie dieser da. Ohne Sorgen, so in den Tag hinein! Ich habe sie doch noch auf den Knien gewiegt, als sie ein kleines, artiges Mädelchen war.
„Merci“, sagt der Arbeiter, wischt sich mit der Hand den Mund. Kratzt sich hinter dem Ohr.
„Sage mal: Duldest du das — mit deiner Frau?“
François schaut ihn verständnislos an.
„Wieso? Was meinst du?“
„Weißt du nicht, daß sie den ganzen Nachmittag schon in der ‚Arche‘ tanzt?“
François wird rot, als schlügen Flammen über sein Gesicht. „Tanzt? Betsey? In der ‚Arche‘?“
Der Arbeiter zündet sich umständlich eine Zigarette an. „Na also! Das ist doch nicht das erstemal! Überhaupt! — deine Betsey —“ Er schnippt mit Daumen und Mittelfinger.
„Nicht das erstemal?“ stößt François hervor.
Die Geste des Arbeiters macht ihn rasen. „Du Schuft!“ schreit er ihn an. „Das lügst du! Das ist nicht wahr! Betsey ist bei ihrer Freundin in der Stadt!“
„So? In der Stadt! Bon! Wir wollen nicht streiten! Schau nach!“
Der Bursche schlendert fort. François steht eine Weile wie erstarrt. Ein Blick auf die Uhr — er hat noch zehn Minuten Zeit. Bis zur „Arche“ sind es, wenn man’s eilig hat, nicht mehr als drei.
Aber das Telefon? Nun hat er den Hilfsarbeiter, der sich die Hand verletzt hat, weggeschickt. Muß der Ersatzmann aber nicht jede Minute eintreffen?
Betsey tanzt in der „Arche“!
Das brennt im Hirn. Das zuckt im Herzen. Wischt alle anderen Gedanken aus. Packt ihn, dreht ihn wie einen Wirbelsturm. Er rennt, was er rennen kann. Braucht nicht einmal drei Minuten. Die Wut trägt ihn.
Betsey!
Und die Leute! Was werden die Leute sagen?
Musik schlägt ihm aus dem Wirtshaus entgegen. Licht strömt aus den Fenstern. Er reißt die Türe auf. Es geht hoch her. Wie die Wellen der See wogen die Paare durcheinander. Die hellen Kleider der Mädchen schimmern wie gleitende Segel. Rauch und Dampf hängt in Wolken an der Decke.
Der Blick des Weichenstellers gleitet zu den Musikanten auf dem Podium. Lachen sie über ihn? Er ist nie mit Betsey zum Tanz gegangen. Jetzt fällt es ihm ein. Sein Beruf hat ihn zu ernst gemacht. Wie sie sich da wiegen, die Mädchen! Mit glühenden Gesichtern! Mit den drallen Hüften, den glänzenden Augen! Sind wie im Rausch!
Die Augen des Beamten weiten sich. Der Atem stockt. Eine heiße Hand preßt ihm die Kehle zu. Vor ihm tanzt Betsey im Arm eines andern. Der Rock fliegt, rosig schimmert das Fleisch durch die Strümpfe. Was? Schmiegt sich ihr Körper nicht wie in Hingabe in die Arme des Fremden? Ihre Brust liegt an seiner Brust. Sie wirft den Kopf zurück. Das kupferrote Haar brennt wie ein Feuerbündel um ihr erhitztes Gesicht. Aschgrau ist François geworden. Wie ein Raubvogel stößt er unter die Paare.
„Genug! Schluß!“ brüllt er den Musikanten zu.
Reißt Betsey aus den Armen ihres Tänzers. Still wird’s. Mit ihren meerblauen Augen schaut Betsey den Mann unsicher an. Da aber bricht Tumult los. Der Fremde lacht und will die Frau nicht von sich lassen. François schlägt mit der Faust nach ihm, zerrt die junge Frau zu sich. Betsey flammt ihn an, zornbebend:
„Hier vor allen Leuten! Führst dich auf wie ein Narr!“
François sieht rote Funken vor den Augen. Er hebt die Hand zum Schlag, aber die Umstehenden fallen ihm in den Arm. Betsey wünscht sich in den Erdboden. Aber muß sie sich nicht jetzt auf die Seite ihres Mannes stellen? Sie kann seinen Blick nicht ertragen, wischt die Hand ihres Tänzers mit einer Gebärde des Unwillens von der Hüfte.
„Schämst du dich nicht?“ fragt François heiser in seiner Hilflosigkeit. „Ich schäme mich! Ja —“ schreit er in den Saal: „Ich schäme mich, daß meine Frau —“
Jäh bricht er ab. Wie eine weiße Maske hängt sein Gesicht über der Masse. Die Augen starren auf die Uhr. Sein Mund steht weit offen. Er reißt sich herum, rast hinaus.
Hinter ihm her wirbelt Gelächter. Bricht wie durchgeschnitten ab. Betsey hat laut und gellend aufgeschrien. Was hat sie sich denn so? Soll sie doch zu Hause bleiben!
Wie eine Irre steht sie da, stößt sich die geballte Faust zwischen die Zähne. Eisiger Schreck jagt ihr den Atem in die Brust zurück.
Die Kreuzungsweiche!
Sie kennt den Dienst ihres Mannes auf die Minute! Mit den Händen verzweifelt um sich stoßend, drängt sie alle zurück und stürzt François nach in das Dunkel der Nacht.
Der rennt! Pfeilschnell fliegt er dahin, daß das Hämmern der Pulse in seinen Ohren wie Kanonendonner rollt.
Schon bebt die Erde.
Der Expreß!
Mit ratternder, brüllender Geschwindigkeit rast er heran. Aber François hat das Stellwerk erreicht. Mit einem tiefen Aufatmen hat er den Hebel der Weiche schon in der Hand — ein Ruck — ihr Heiligen! Was ist das? Die Weiche funktioniert nicht! Ein Ruck — Himmel hilf! Die Weiche! Ein Verbrechen! Sekunden noch — Sekunden — François rennt weg — dem Zug entgegen —! Da braust er schon heran mit funkelnden Augen —! Mit einem unartikulierten Schrei, der in dem Rattern des Zuges untergeht, schleudert der Weichensteller die Arme herum wie Mühlenflügel — signalisiert — — „Halt! Halt! Halt!“
Der Lokomotivführer starrt auf den Mann. Schon vorbei! Was war das? Da stimmt etwas nicht! Er ist noch verwirrt von dem Zwischenfall, der kaum eine halbe Stunde zurückliegt. Angst steigt auf, Angst läßt den Heizer schlottern. Ruhe jetzt! Blitzschnell den Dampfregulator schließen, den Hebel der Schnellbremse herumwerfen! Schweiß brennt in den Augen. Die Vakuumbremse knirscht. — Die Passagiere werden wie Gepäckstücke durcheinandergeworfen. Dann Stille — unheimliche, totenhafte Stille — wie lange? Niemand weiß — dann ein Pfeifen, Sausen, Heulen, als seien alle Dämonen der Hölle entwichen. Schlag, Krach und Prasseln! Dampf strömt zischend aus brechenden Stahlhälsen, die ihre Öffnungen steil gegen den sternbesäten Himmel stellen. Mammute scheinen in der Nacht aus der Erde zu stampfen, sich übereinander zu werfen in wildem Verwüstungskampf. — Und dann Schreie — Schreie — Menschen stürmen herbei, aus dem Schoß der Nacht gelockt durch die Explosion, den Dampf, das Beben der Erde.
Die Tanzenden stürzen aus der Höhle der „Arche“ mit schreckverzerrten Gesichtern. Eine lautlose schwarze Menschenwoge spült das Entsetzen heran. Sie schlägt zurück, diese lebendige Woge. Augen, erstarrt im Anblick des Grauenvollen, verschleiern sich hinter Tränen. Da stehen einige Wagen frei auf der Strecke. Die Maschine ist über die Böschung gestürzt, mit ihr der Postwagen und ein Wagen Erster Klasse. Der vordere der noch stehenden Wagen ist zusammengeklappt wie ein Pappkarton. Die Fetzen stehen unwirklich und eckig wie Soffitten auf einer Gespensterbühne.
Ein Mann von dreißig Jahren, halbnackt, kriecht aus dem Trümmerhaufen.
Eine Dame mit verstörten, fremden Augen, wachsbleich, reißt den schmalen Körper durch ein zersplittertes Fenster. Silhouetten huschen an den zertrümmerten Ungetümen entlang. Laternen irrlichtern durch die Dunkelheit. Scharfe Rufe brechen durch das Chaos des Jammers und der Vernichtung. Langsam ist das Unglück zu übersehen. Im Innern des Bahnhofs, der zwei, drei Kilometer entfernt liegt und in der Dunkelheit unwirklich weit gerückt erscheint, wird in fiebernder Hast der Hilfszug unter Dampf gebracht. Lokomotiven mit Verbandszeug und Sanitätspersonal rollen heraus. Das Netz der Telegrafendrähte schwingt. Aber noch immer läuft der Film des Grauens.
Читать дальше