„Liebste!“
„Wie warst du unglücklich!“
„Ich? Niemals! Deine Briefe machten mich reich!“
„Charles! Beschäme mich nicht. Ich habe mich gesehnt nach dir — wie habe ich mich gesehnt!“
„Du Herrlichste! Ich wäre mit einem Lächeln des Glücks gestorben, wenn es für dich hätte sein dürfen!“
„Gestorben!“ schluchzt die Frau auf. „Schweig! Nie darfst du das sagen! Tausend Nächte habe ich um dich gezagt und gebebt, gebetet und gehofft und gezweifelt. Und nun habe ich dich, nun bist du bei mir, mein Geliebter! Ich sehe dein Gesicht, deine Augen, deine Hände, o mein Gott, laß es keinen Traum sein!“
In diesem Augenblick erhält die Dame einen heftigen Stoß in den Rücken, der sie beiseite schleudert. Das Gesicht eines fremden, rotwangigen Weibes mit einer Haube auf dem dunklen Haar wird sichtbar. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Mund öffnet sich zu einem Schrei, aber schon ist dieser graue Mann hochgeschnellt, seine Hand preßt sich auf den Mund der Überraschten, er zieht sie in den Raum, während die Dame hinter ihr die Tür schließt. Die Frau, die auf Ordnung in dem Zug zu sehen hat, wähnt sich überfallen. Sie schaut in maßlosem Erstaunen auf die elegante, juwelengeschmückte Dame, ihre Augen rufen um Hilfe, doch noch immer hält der Landstreicher sie fest und verschließt ihr mit Gewalt den Mund. Die Dame beginnt zu sprechen. Sie steht Leib an Leib mit der Überfallenen, der Raum ist nicht für drei Menschen berechnet. Sie flüstert der Frau ins Ohr:
„Es geschieht Ihnen nichts. Bei der menschlichen Barmherzigkeit, schreien Sie nicht! Ich habe diesen Mann seit Jahren nicht mehr gesehen. Unstet und flüchtig ist er, ja, Sie sehen es, Sie können ihn verraten, aber es wird Ihnen Jammer und Leid bringen, ich würde Sie verfluchen, Sie würden ein Verbrechen begehen, denn dieser Mann trägt unschuldig sein furchtbares Schicksal! Wollen Sie schweigen? Ja? Wollen Sie schweigen?“
Aber die arme Frau, die kaum atmen kann unter den Händen dieses Mannes, der wahrlich nicht aussieht, als ob ihn ein unverdientes Schicksal getroffen hätte, diese arme Frau kann gar nicht so schnell denken, sie kann sich nicht in die Situation finden. Sie starrt die Dame noch mit demselben hilflosen Ausdruck an wie vorher, ohne sich durch eine Bewegung zu äußern. Die Dame aber reißt die kostbare Perlenkette von ihrem Halse, sie faßt in ihre Tasche, ihre Finger halten ein Bündel Banknoten. Sie hält das alles mit zitternder Hand der Frau vor das Gesicht: „Ich schenke es Ihnen! Geben Sie mir Ihre Adresse! Ich will für Sie sorgen! Ich bin reich! Haben Sie Kinder? Sie können sich für Ihre Kleinen wünschen, was Sie wollen! Oder für sich! Nehmen Sie! Nehmen Sie! Sie sollen noch viel mehr bekommen! Nur — schweigen Sie! Ich flehe Sie an: Schweigen Sie! Nur eine Minute noch schweigen Sie!“
Die Frau fühlt die Juwelen und das Geld in ihre Hand gepreßt. Der Druck auf ihren Mund lockert sich. Sie schreit nicht. Sie ist noch nicht recht bei Besinnung. Ihre Art zu denken ist einfach und schwerfällig, sie ist phantasielos, sie kann nur Tatsachen denken, sie kann keine Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten erfinden. Sie sieht das Geld, die Perlen — und schweigt schon aus Staunen, das sich rasch in Habgier verwandelt. Sie hat vier Kinder zu Hause — einen invaliden Mann, der im Kriege verschüttet wurde — Geld ist knapp, das Häuschen längst reparaturbedürftig! Wenn man noch das kleine Ackerland hinzupachten könnte, würde es auch noch für eine zweite Kuh reichen! Ihre Augen wägen die Zahl der zerknüllten Banknoten in ihrer Hand ab. Das scheint mehr zu sein, als sie sich träumen lassen konnte — und diese Perlen! — Natürlich sind sie echt. Solch eine Frau trägt nur echte Perlen! Ein Vermögen! Jeanette, sei klug, schweige! Was geht es dich an, was diese Dame und der Vagabund miteinander haben? Vielleicht ist er ein Verbrecher! Nun, ihr hat er nichts getan! Ein bißchen gedrückt hat er sie, das ist reichlich gutgemacht! —
Der Zug hat sich inzwischen längst in Bewegung gesetzt. An dem kleinen, niederen Fenster zieht die Landschaft vorbei. Die hohen Bäume scheinen einen Wettlauf zu veranstalten. Die Telegraphenstangen wollen es mit ihnen aufnehmen. Aber die Dämmerung geht schon in ein silbernes Grau über, und am Himmel zittert noch einmal das fahle Rot auf, das die Sonne zurückgelassen hat. Nun erlischt auch der letzte Widerschein des Lichts, ockergelbe Schatten brechen über die Felder, die nun schwarz und wesenlos werden wie der leibhaftige Tod.
Das Schweigen der Frau ist Zustimmung. Die fremde Dame umfaßt noch einmal mit dem zärtlichsten Blick diesen mit Schmutz bedeckten Menschen, als müßte sie sich sein Bild für alle Zeiten einprägen. Sein Gesicht ist verschwollen von der Kälte, der durchlöcherte, fadenscheinige Mantel ist über der bloßen Brust geöffnet. Wahrlich, dieser Landstreicher ist ein lebendiges Bild des Jammers und des Elends, und niemand könnte einen größeren Gegensatz ausdenken als diese Dame im kostbaren Pelz, umschwebt von dem köstlichen Hauch des Luxus und des Reichtums, und diesen Ausgestoßenen, den das Leben aufgegeben hat.
Wortlos überreicht sie ihm ihre Handtasche. Die Frau neben ihr kann wohl sehen, daß noch viel Geld darinnen ist. Sie bemerkt es nicht ohne Neid, aber ihre Neugier ist noch größer. Sie steht da wie eine Zuschauerin im Theater, die zu spät gekommen ist und sich nun in den Vorgängen auf der Bühne nicht zurechtfindet.
„Nach so langer Zeit — es ist schwer, die Fassung zu behalten —“ stammelt die Dame. „Ich unterbreche die Fahrt in Lyon — ich bin —“
Da schrillt eine Klingel. Gleich darauf hört man Stimmen, und eine Hand drückt kräftig und schnell die Klinke der Tür herab. Aber sie kann sie nicht öffnen, denn Jeanette hat sich blitzschnell mit breitem Rücken vorgeschoben und ruft:
„Ich komme!“
Ein Mann brummt etwas von Weibern und Unordnung, dann verklingt die Stimme. Jeanette schlüpft aus dem Raum, aufatmend, wieder in Freiheit zu sein, und eilt dem Manne nach, der sich zögernd entfernt.
„Wir dürfen keinen Augenblick mehr verlieren“, sagt Charles.
„Leb wohl, Roxane! Leb wohl! Leb wohl!“
Die Dame blickt ihn noch einmal in fast mütterlicher Entrücktheit an und hebt mühsam die Hand zum Abschied. Dann tritt sie hinaus und verschwindet im Laufgang des Wagens. Die Bedienungsfrau, die bald darauf von der anderen Seite zurückkommt, findet ihren kleinen Raum leer. Der Zug ist in rasender Fahrt, sie ahnt nicht, daß der graue Mann am Trittbrett des Wagens angeklammert hängt, in einer Stellung, die ihm jeden Augenblick einen schrecklichen Tod bringen kann, während die beißende Kälte ihn bis auf die Knochen erschauern läßt und kleine Steine, die die Schnelligkeit des dahinrasenden Zuges aufpeitscht, sein Gesicht zerreißen.
*
Inzwischen waren die beiden Herren in dem Abteil Erster Klasse in größter Unruhe.
Dr. Berton, Arzt aus Marseille, rieb sich die Augen und sah verwundert in das Gesicht des neben ihm sitzenden Reisenden.
„Ich glaube, ich habe geschlafen — aber, zum Kuckuck, ich bin doch aufgestanden, um nach der Dame zu sehen!“
„Sie sind gleich wieder umgekehrt und waren froh, Ihren Platz noch zu erreichen, ehe Sie umfielen!“
„Was soll das heißen?“
„Daß Sie in der Tat geschlafen haben, eine ziemlich lange Zeit, will ich meinen, und mir erging es nicht anders. Und das, obgleich ich munter wie ein Fisch die Fahrt angetreten habe!“
Dr. Berton schiebt die Unterlippe vor.
„Wie erklären Sie sich das?“
„Sehr einfach! Wir sind betäubt worden, mein Herr!“
„Betäubt?“
„Ja. Durch ein Opiat! — Ich habe mich Ihnen übrigens noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Durand — ich bin Beamter der Pariser Sûreté!“
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