„Sehr erfreut!“ Dr. Berton nennt seinen Namen.
„Man hat uns betäubt, mein Herr!“
„Aber Herr Durand! Sie träumen! Die Dame ist für mich keine Fremde!“
„Sie haben nicht weniger geträumt als ich, und ich wette, wenn ich die Zigaretten, die uns von der inzwischen verschwundenen Dame liebenswürdigerweise angeboten wurden, untersuchen lasse, so wird sich herausstellen, daß sie ein Betäubungsmittel enthalten.“
Unglücklicherweise aber hatten die beiden Herren in dem Augenblick, als sie das Fenster öffneten, um die Ursache der Fahrtunterbrechung festzustellen, die Reste jener Zigaretten ins Freie geworfen.
Dr. Berton versucht, Herrn Durand seinen Verdacht auszureden. Er ereifert sich.
„Sie haben doch unser Gespräch mit angehört, mein Herr! Ich habe Fräulein Roxane Zairis zufällig hier im Zug getroffen. Sie ist eine Freundin meiner Frau. Die beiden Damen wurden in der gleichen Pension am Genfer See erzogen!“
„Wenn sie keine besseren Gegengründe, die meinen Verdacht entkräften sollen, haben, so werden Sie mich nicht überzeugen, Herr Dr. Berton. Ich bin Kriminalist, ich bin meiner Sache ganz sicher!“
„Als ob sich Kriminalisten noch nie getäuscht hätten!“ erwidert Dr. Berton, diesmal fast heftig. „Nein, mein Herr, ich bin verpflichtet, gegen diesen völlig ungerechtfertigten Verdacht, den Sie ausgesprochen haben, im Namen der Dame zu protestieren!“
Durand lehnt sich zurück, betrachtet den Arzt interessiert. Er scheint, trotz des Widerstandes, den er bei Dr. Berton gefunden hat, bereit, sich überzeugen zu lassen — oder seine Miene, frei von jeder verbissenen Voreingenommenheit, ist nur eine Maske. Er lächelt ganz heiter, als messe er dem Zwischenfall gar keine Bedeutung bei und sei eher amüsiert über die Aufregung seines Reisegefährten. „Sehen Sie sich vor“, fährt Dr. Berton fort, „diese Dame, Fräulein Roxane Zairis, würde Ihnen sicherlich beträchtliche Ungelegenheiten bereiten, wenn sie erführe, was Sie eben gesagt haben. Ihre Familie ist sehr angesehen, sie ist sehr reich, unabhängig, eine vollendete Dame — nein, mein Herr, verzeihen Sie mir, aber ich finde Ihre Idee einfach toll!“
Durand zuckt die Achseln und legt die Hände ineinander.
„Ich lasse mich gern überzeugen! Sie kennen demnach die Dame näher?“
„Ich kenne sie beinahe so gut, wie meine Frau sie kennt. Gewiß — meine Frau ist mit ihr befreundet — meine Bekanntschaft mit Fräulein Zairis ist weit jüngeren Datums. Aber wenn Sie mir die Frage, warum die Dame uns betäubt haben sollte, als Preisrätsel aufgeben würden, weiß der Himmel, ich würde es niemals lösen können!“
Durand lacht.
„Solche Preisrätsel lassen sich auch nicht einfach auf dem Papier auflösen, Herr Dr. Berton! Sie haben sicher Ihre Hochzeitsreise nach Griechenland gemacht?“
„Erraten! Woher wissen Sie denn das, Herr Durand?“
„Aus Ihrem Gespräch mit der Dame selbst!“
„Ach so! Natürlich! Ja! Auf Bitten meiner Frau Moina, die für Fräulein Zairis eine tiefe Zuneigung empfindet — es ist eine wahre Pensionsfreundschaft, eine Mädchentreue, wie man sie selten findet — also auf Bitten meiner Gattin bereisten wir als junges Ehepaar Griechenland. Dort, in Athen haben wir natürlich Fräulein Zairis aufgesucht, oder besser, wir wurden von ihr erwartet! Eine sehr vornehme Familie! Der Vater lebte damals noch, ein angesehener Großkaufmann! Nein, Herr Durand, diese Dame hat uns kein Opiat verabreicht, eher bin ich es selbst gewesen!“
„Sie überzeugen mich. Wird Fräulein Zairis Sie besuchen?“
„Ja. Sie hat in Lyon zu tun, später wird sie nach Marseille kommen und meine Frau besuchen! Haben Sie nicht zugehört, als sie davon sprach? Sie will dann nach Algier, wie Sie vernommen haben dürften. Ich bitte Sie, mir zu sagen, welchen Grund diese so reiche und in Athen so angesehene Dame haben sollte, uns in eine sichtlich vorübergehende Betäubung zu versetzen!“
Durand zuckt die Achseln. „Weiß ich es? Aber ich sagte Ihnen schon: Sie haben mich überzeugt! Wir Beamten sind immer im Beruf, wir werden natürlich einseitig! Ich habe geträumt und bilde mir ein, ich sei betäubt worden! Ha! Ha! Da können Sie wieder einmal sehen, Herr Dr. Berton, was der Beruf aus einem Menschen macht. Sind Sie Psychiater?“
„Nein. Ich stehe der Psychiatrie ziemlich fern. Ich bin Chirurg!“
„Ah! Ich hätte gewettet, Ihren Augen nach, Sie wären Psychiater! Aber warten Sie — warten Sie — ich habe ein Gedächtnis, das arbeitet wie eine Maschine — sind Sie nicht schon als gerichtlicher Sachverständiger aufgetreten?“
„Ja. In zwei Prozessen.“
Durand hört schon nicht mehr hin, was Dr. Berton sagt. Er ist ganz mit seinen Gedanken beschäftigt. Ist es der rätselhaften Reisebekanntschaft vielleicht darauf angekommen, zu verhindern, daß einer der Herren ihr folgte? Aber dann — was bezweckte sie? Ganz unwahrscheinlich, daß er oder Dr. Berton hinter ihr herlaufen würden! — Aber warum kommt sie immer noch nicht? Hat sie das plötzliche Anhalten des Zuges auf freier Strecke vorausgeahnt? Warum diese Eile, aus dem Abteil zu kommen? Ohne jede Frage? Wo steckt sie jetzt?
Durand erinnert sich, daß sie im Moment, als der Zug zu schleifen begann und er selbst ein Unglück befürchtete, ganz ruhig geblieben war. Sie hatte nur nach der Tür gesehen und sichtlich überlegt, wie sie schnell hinauskommen konnte.
Unsinn! sagt sich dann wieder Durand. Das rede ich mir jetzt vor — natürlich! Ich kann die Fachsimpelei nicht lassen, und meine Kombinationen sind ganz unklar. Da überfliegt ihn eine Wolke von Duft. Eben kommt die Dame zurück. Sie ist scheinbar ganz gleichmütig.
„Ich habe mich erkundigt“, sagt sie mit einem liebenswürdigen Lächeln zu Berton. „Irgend jemand hat ein Signal gegeben —“
„Wieso?“ erwidert der Arzt, der den Zusammenhang dieser Bemerkung mit dem schon halb vergessenen Zwischenfall nicht recht versteht. „Wieso?“
Sie hat geweint, denkt Durand mit einem schnellen, scharfen Blick.
Eine fremde Stimme sagt: „Woher wissen Sie, daß jemand ein Signal gegeben hat, meine Dame?“
Es ist ein Fremder, der hinter Roxane Zairis in der offenen Tür stehen geblieben ist. Er zieht höflich die Mütze.
Ein Dreißigjähriger, sonnengebräuntes Gesicht, oder Kleidung nach Provinz, vielleicht Offizier, kann auch ein Rentner sein, der viel im Freien lebt, eifriger Jäger, Sportsmann.
„Zwei Reisende haben es sich erzählt“, erwidert die Dame unbefangen, mit einer Haltung, die Distanz zeigt, während ihre Miene deutlich genug ihre Ablehnung gegen den Frager zum Ausdruck bringt.
„Sehr interessant!“ Der Herr wechselt einen erstaunten Blick mit dem einen Reisenden.
„Herr Durand, wenn ich nicht irre?“ Ein sonderbares Augenzwinkern des Unbekannten.
Der Angeredete erhebt sich sofort und tritt mit dem Fremden auf den Korridor. Sie schließen die Tür.
„Kommissar Marchand“, stellt sich der andere vor.
„Ich verfolge einen Mann, der in St. Etienne aufgetaucht ist. Vor acht Jahren wegen eines Raubmords in Paris verurteilt. Charles Moreaux —“
„Ah! Erinnere mich. War eine sensationelle Sache! Ermordung des Diplomaten Fryhan. Spielte nach Tongking hinüber, ja?“
„Richtig!“
„Stimmt! Stimmt! Moreaux wurde zum Tode verurteilt, dann begnadigt und deportiert. Man vermutete politische Motive! Ist nie ganz klar geworden, die Sache!“
„Ja. Dieser Moreaux ist geflüchtet!“
Der Sprecher blickt durch das Fenster auf die Griechin, die sich angeregt mit ihrem Mitreisenden unterhält.
„Kennen Sie die Dame, Herr Durand?“
„Ja und nein! Eine Athenerin, mit dem Herrn befreundet, dem sie gegenübersitzt. Dieser Herr ist Arzt in Marseille!“
Durand verschweigt seinen seltsamen Verdacht. Es gehört zu seiner Methode. Wenn ihn ein Fall interessiert und er die Absicht hat, ihn aufzugreifen, pflegt er vollkommen selbständig zu handeln.
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