Plötzlich aber kam mir eine neue Idee: Wie?
Wenn man den Draht der Alarmvorrichtung durchschnitten hätte?
Mein Mann hat, da er mich als Arzt oft allein lassen muß, einen Alarmmelder in der Wohnung anbringen lassen. Er hatte schon damals das Bedenken geäußert, ein Berufseinbrecher könnte die Leitungen durchschneiden. Auf meine erschreckte Frage, wie denn das möglich sei, erklärte er mir, daß sich das mit der entsprechenden Sicherung ohne weiteres durch eine Drahtschere bewerkstelligen ließe. Dieses Gespräch fiel mir sofort ein.
Ich erhob mich.
In der nächsten Sekunde schrillte es durch das ganze Haus:
Alarm!
Ich begriff: Der Eindringling hatte die Selenzelle, die in die zweite elektrische Alarmanlage eingebaut war, mit der Blendlaterne belichtet!
Mein Herz setzte aus!
Es befanden sich also Verbrecher im Hause!“
*
Der Kommissar, dem Frau Dr. Berton diese Schilderung gab, benutzte die Pause, die sie noch zitternd in der Erinnerung des ausgestandenen Schreckens machte, um einzugreifen:
„Ihr Gatte hatte also sein Haus doppelt gesichert!“
„Ja. Er lebte in beständiger Sorge um mich!“
„Wurden Sie denn schon früher einmal von Einbrechern heimgesucht?“
„Nein. Aber seit längerer Zeit trieb sich in unserer Umgebung Gesindel umher, das — immerhin so nahe der Hauptverkehrsstraße — früher niemals hier gesehen worden war. Es schien bestimmte Pläne zu verfolgen. Einmal ging ich spät abends vor das Haus, um nach meinem Gatten Ausschau zu halten, da trat ein grobschlächtiger Kerl auf mich zu und beleidigte mich durch unflätige Redensarten. Als ich flüchten wollte, packte er mich am Arm, aber ich schrie laut auf. Unser Diener Jean kam heraus und vertrieb den Verbrecher. Seitdem lebte mein Mann in ständiger Angst, man könnte seine Abwesenheit benutzen, um einzubrechen.“
Der Kommissar nickt. „Die Benutzung des Selen war ein kluger Gedanke des Herrn Dr. Berton. Es hat die Eigenschaft, sowie es belichtet wird, seinen hohen elektrischen Widerstand zu verringern. Die Empfindlichkeit war gut abgestimmt, das Selen hat vielleicht schon auf ein angezündetes Streichholz hin reagiert. Nun, Sie vernahmen — ich kann mir vorstellen, mit welchem Schrecken — den Alarm! Was nun, gnädige Frau?“
„Nach einem Augenblick der Betäubung, in dem ich regungslos verharrte, unfähig mich zu bewegen, riß ich die Tür auf, um bei Herrn Cassagnac Hilfe zu suchen. Kaum aber blicke ich in den dunklen Gang, da steht vor mir eine Gestalt. Ein Mann, von dem ich nicht mehr gesehen habe, als daß er jung und kräftig war und die Mütze tief in die Stirn gezogen hatte. Schon fiel mein Blick auf den vorgehaltenen Revolver des Eindringlings, er zischte mir zu:
‚Rühren Sie sich nicht! Beim ersten Laut sind Sie verloren!‘
Ich war so überrascht, daß ich nicht hätte schreien können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Die Stimme versagte mir. Die Tür in das Wartezimmer stand halb offen. Ich sehe mit Entsetzen in dem Lichtschein der elektrischen Lampen den Schatten eines Menschen auf dem Boden.“
Hier wird Frau Dr. Berton wieder von dem Kommissar unterbrochen: „War auch die Tür in das Ordinationszimmer geöffnet?“
„Das konnte ich nicht sehen, denn dieser Raum befindet sich ja auf der Seite des Wohnzimmers!“
„Darf ich Sie bitten, gnädige Frau, mir die Lage der Räume kurz zu skizzieren?“
„Gern!“
Der Beamte schiebt der eleganten Frau einen Bogen Papier und einen Bleistift zu.
„Alle Räume?“
„Nur die, die im Entresol liegen, gnädige Frau!“
Der Beamte betrachtet sehr aufmerksam die Zeichnung.
„Sie konnten von der Tür des Wohnzimmers aus das Wartezimmer nur angeschnitten sehen, gnädige Frau! Der Mann auf dem Boden muß also ganz nahe der Tür zum Korridor oder zum Eßzimmer gelegen haben!“
„Das mag sein. Ich dachte in jenem Augenblick nur eins: Ein Überfall! — Die Löhnungsgelder! — 20.000 Francs! — Der Zahlmeister Cassagnac! —
Das Bewußtsein, daß sich außer mir ein fremder Mensch in größter Not befand, gab mir die Besinnung und geistige Kraft zurück.
Ich schrie laut und gellend um Hilfe und schlug zu gleicher Zeit instinktiv nach der Waffe des Verbrechers, der den landläufigen Eindruck eines Apachen machte. Er führte seine Drohung, mich niederzuschießen, nicht aus, vielleicht, weil es mir gelungen war, die Waffe beiseite zu stoßen. Aber er versetzte mir einen Schlag ins Gesicht, der mich betäubte. Ich sank in die Knie. Trotzdem glaube ich mit überwachen Sinnen noch beobachtet und gehört zu haben, wie er in das Ordinationszimmer lief und wieder zurückkam. Der wohlbekannte Geruch des Chloroforms umschwebte mich. Ich hörte noch Babette im ersten Stock laut nach der Polizei rufen, dann verlor ich die Besinnung und erwachte erst wieder in den Armen meines Mannes, der alle Mühe hatte, mich ins Leben zurückzurufen. Die Barbaren hatten mich hilflos liegen gelassen, einen Schwamm mit Chloroform auf dem Gesicht. Nur dem glücklichen Zufall, daß der Schwamm durch eine unbewußte Bewegung meines Kopfes bald wieder abgeglitten ist, verdanke ich mein Leben.“ —
Soweit die Bekundung der Frau Moina Berton.
Babette, das Mädchen des Arztes, hatte dieser Schilderung nur einige Worte hinzufügen können, denn sie war nicht vernehmungsfähig. Schon ehe sie ihre Herrin schreien hörte, wollte sie — und dies rein zufällig — die Treppe wieder hinabgehen. Entsetzen faßte sie, als sie unten einen fremden Menschen sieht, der zu ihr emporstarrt. Von Angst geschüttelt stürzt sie in ein Zimmer zurück, unfähig, einen Entschluß zu fassen. Sie ist nicht einmal in der Lage, Frau Dr. Berton zu warnen, die in diesem Augenblick offenbar noch ahnungslos war. Der Verbrecher lauerte aber schon vor ihrer Türe. So vergingen Minuten. Da hörte Babette hinter der Tür des Wohnzimmers im ersten Stock den Hilferuf ihrer Herrin. Sie riß das Fenster auf und schrie nach der Polizei. Als sie den Verbrecher dann nach oben eilen hörte — vielleicht bildete sie sich auch nur ein, den Verfolger auf der Treppe zu hören —, sprang Babette in sinnlosem Entsetzen aus dem Fenster und blieb besinnungslos in der dunklen Seitenstraße liegen.
Ihre Verletzungen sind so schwer, daß man an ihrem Aufkommen zweifeln muß. — —
Die Polizei hat inzwischen ihren ersten flüchtigen Pressebericht herausgegeben. Sie vermutet in den Einbrechern Mitglieder einer Apachenbande, die schon seit Monaten von sich reden macht. Sie waren durch ein Fenster des Ordinationszimmers, dessen Scheiben sie geschickt eingedrückt hatten, in das Haus Dr. Bertons gelangt. Auch dieses Fenster lag nach der stillen Seitenstraße zu. Aber jede Spur von den Banditen fehlte.
Das Seltsamste, Unbegreiflichste aber war:
Von dieser Nacht an war auch der Zahlmeister Henri Cassagnac verschwunden.
Der Journalist Eugen Peytral, Redakteur an einem Boulevardblatt, war der erste, der bis zum Schauplatz des Verbrechens vordrang. Er war der Neffe eines Generals, weshalb man die vielen Rügen, die er der Polizei immer wieder erteilte, stillschweigend hinnahm. Eigensinniger als die Detektive, stellte er sofort persönliche Nachforschungen an, obgleich die Polizei, die im Morgengrauen auf den Telefonruf des Arztes hin in dessen Haus erschienen war, bereits alles Nötige veranlaßt hatte. Peytral sandte seinem Blatt einen leidenschaftlichen Artikel, zwar nicht getragen von krimineller Erfahrung, aber von einer Schärfe der Beobachtung, die das Publikum noch mehr erregte, während der Präfekt den Aufsatz mit einem ärgerlichen Achselzucken zu den Akten legte.
„Der verschwundene Zahlmeister“
überschrieb Peytral sein Feuilleton:
„Ein Mensch verschwindet spurlos — und die Polizei steht machtlos! Hat man dergleichen je gehört? Ein Mensch befindet sich in einem bestimmten Zimmer eines Hauses. Er hat eine große Geldsumme bei sich. Ein Apache, nein, mehrere Apachen erscheinen, verschaffen sich Eingang in dieses Haus, und der besagte Mann verschwindet spurlos, er löst sich sozusagen auf, er wird Rauch, Illusion, ein Name, ein Nichts.
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