Der Bräutigam trägt schon den Frack und sieht sehr feierlich aus — trotz des rundlichen, trinkfesten Gesichtes. Er kauft sich eine Zeitung und liest mit wachsendem Erstaunen von dem „Fall Berton“, fährt sofort ins Commissariat de la Sûreté, dann zum Präfekten in Person, vergißt seine Braut, das Standesamt, die Liebe — und erwirkt sich die Ermächtigung, ohne Verzug in dem Doktorhaus einen letzten Versuch zur Klärung des geheimnisvollen Verbrechens zu unternehmen.
Während also Julia, eine noch immer geborene Vernet, mit feuchten Augen wieder vergeblich auf den Bräutigam wartet, um schließlich das Brautbukett zum Fenster hinauszuwerfen — während also am blauesten Frühlingshimmel einer noch nicht geschlossenen Ehe schon ein Sturm heraufzieht, ein Sirocco, ein Taifun der Entrüstung, ist Durand, dieses Muster eines Detektivs, dieses Original eines Beamten, auf dem Wege zu Dr. Berton.
Dieser hatte noch mit seinen Kranken zu tun. Frau Moina empfing den Besucher. Er sah der jungen Frau, die ihn für einen Patienten hielt, scharf ins Gesicht. Er fand es sehr hübsch. Seine Hand, schon erhoben, um die Legitimation der Sûreté vorzuweisen, sank wieder herab.
Er schüttelte den Kopf, als sie ihn in das Wartezimmer führen wollte.
„Die Schwester ist noch nicht eingetroffen, die meinem Mann assistiert, und unser Mädchen ist — Sie werden es gelesen haben — schwer verletzt“, sagte die Doktorsfrau, um zu erklären, daß sie selbst die Patienten empfing. „Ich wohne nicht mehr im Hause, mein Mann hat einige Zimmer im Hotel de Paris gemietet. Wo das liegt? Rue Colbert, mein Herr, nahe dem Hauptpostamt! Trotzdem muß ich zu den Krankenbesuchen hierherkommen, um meinem Mann zu helfen. Die bisherige Assistentin hat abgesagt, die neue soll erst eintreffen!“
„Jawohl, jawohl!“ sagt Durand, während seine Augen in der Diele umhergehen. „Ich bin kein Patient. Mein Name ist Durand — ein alter Freund Ihres Gatten — —“
Frau Moina lächelt verbindlich und nötigt den Besucher in das Wohnzimmer. Es ist in englischem Stil eingerichtet. Es wirkt ein wenig steif, eine Ecke aber scheint für die Hausfrau reserviert: Eine schöne Stehlampe vor einem breiten, kissenbedeckten Schaukelstuhl, ein Fenster, durch rubinrote Vorhänge halb verdeckt. —
Durand setzt sich.
„Ja, gnädige Frau, ich habe von dem schrecklichen Verbrechen gelesen — Sie machen jetzt noch einen völlig verstörten Eindruck.“
„Ich habe mich noch nicht erholt, mein Herr. Der Aufenthalt in diesen Räumen ist mir — auch vorübergehend — entsetzlich! Ich habe meine Jugend auf dem Lande verlebt, solche Zwischenfälle habe ich niemals kennengelernt.“
„Sie sind schließlich selbst in Marseille nicht an der Tagesordnung“, bemerkt Durand.
„Es war schrecklich. Die arme Babette! Wie tut sie mir leid! Sie war mir eine treue Dienerin!“
Durand nickt. Er verschweigt, daß die Polizei Babette bereits vernommen hat. Man hatte von ihr nicht viel erfahren können. Wohl war sie für Minuten zur Besinnung gekommen, als ein Beamter an ihrem Bett saß, aber der behandelnde Arzt hatte dringend gebeten, von jeder Vernehmung abzusehen. Die Patientin schwebe in Lebensgefahr.
Die arme Babette hatte nur einen verständnislosen Blick auf den Mann neben sich geworfen. Aber irgendein geheimnisvoller Kontakt mit dem Polizeidetektiv schien sie ahnen zu lassen, daß der Herr mit den forschenden Augen etwas von ihr wissen wollte. Sie hatte sich plötzlich aufgerichtet und mit erstickter Stimme gerufen:
„Mörder! — Mantel! — Madame! Madame!“
Dann war sie zurückgesunken und hatte von neuem die Besinnung verloren.
Man hatte Durand diesen kleinen Zwischenfall erzählt, ohne etwas damit beginnen zu können.
„Arme Babette“, seufzte Moina von neuem.
„Schrecklich! Und Sie glauben wirklich, gnädige Frau, die Verbrecher seien Apachen gewesen?“
„Ich habe ja nur einen gesehen. Er stand dicht vor mir!“
„Und er sah aus wie ein Apache?“
„Ich habe sein Gesicht nicht gesehen. Es war dunkel — Augen und Nase waren von der Mütze beschattet. Ich sah nur ein bartloses Kinn — er war mittelgroß — nein, ich kann ihn nicht beschreiben, ich weiß, welche Verantwortung ich durch falsche oder ungeschickte Angaben auf mich lade!“
„Das übliche farbige Halstuch?“
„Ja! Das sah ich —“
„Keinen Mantel? Es war kalt — für diese Gegend sogar außergewöhnlich kalt!“
„Nein. Er trug keinen Mantel!“
„Freilich! Dieses Gesindel ist abgehärtet! Die Verbrecher kamen durch den Garten, ja? Drangen durch das Fenster — und sind ebenso geflüchtet?“
„Ja. Es gab keinen anderen Weg für sie.“
„Die Haustür?“
„War verschlossen. Von innen. Ich hatte den Schlüssel in meinem Zimmer. Ich bleibe immer wach, bis Guy nach Hause kommt.“
„Und Sie vermißten den Schlüssel nicht?“
„Nein.“
„Sie sagen, Sie erwarten Ihren Mann immer. Hat Ihr Gatte keinen Hausschlüssel? Sollte er so sehr unter dem kleinen Pantoffel stehen? Bekommt er den Schlüssel etwa nur bei besonderen Gelegenheiten?“
Durand macht ein spitzbübisches Gesicht und spitzt die Lippen. Man kann ihm nicht böse sein. Frau Moina muß lachen.
„Quelle idée! Natürlich hat Guy einen Schlüssel. Aber er konnte ja nicht in’s Haus, weil zwei Sicherheitsketten immer der Türe vorliegen.“
„Auch an jenem Abend?“
„Sicher! — Wie immer! —“
„Aber Guy ist doch ohne fremde Hilfe ins Haus gekommen! Er fand Sie ja auf!“
„In der Tat, ja! Darüber habe ich noch nicht nachgedacht!“
„Nun, der Polizei ist das nicht entgangen. Ihr Gatte hat auch ausgesagt, die Verbrecher seien durch die Haustür geflüchtet und hätten diese offen gelassen!“
„Dann ist es so! Ich bin noch völlig verwirrt!“
„Das läßt sich denken!“
In diesem Augenblick hört man ein Kind weinen. Frau Moina entschuldigt sich und geht hinaus.
Täuscht sich Durand?
Ja, täusche ich mich, denkt er. Das Flackern in ihren Augen! Das Zittern ihrer Hände!
Sagt sie die Wahrheit?
Wirklich die volle Wahrheit?
Sie spricht von einem bartlosen jungen Menschen ohne Mantel. Babette offenbar von einem mit Mantel! Es können natürlich zwei verschiedene in Frage kommen! Aber der Mann, der Frau Moina betäubte, stand doch nahe der Treppe. Nichts wahrscheinlicher, als daß er, nachdem er sein Opfer überwältigt hatte, die Treppe emporgeeilt war. Auch daß ihn das Mädchen von oben schon vorher bemerkt hat, ist wahrscheinlich, denn als Frau Dr. Berton — nach ihrer Aussage — die Tür aufriß, da stand er ja schon draußen! — —
Durand geht, die Hände auf dem Rücken, auf und ab. Dies also ist das Wohnzimmer! Hier die Tür zum Korridor. Dort ein Fenster auf die Straße mit schmalem, hohen Rahmen. Dann wieder eine Tür. Durand öffnet sie leise. Das Schlafzimmer Frau Moinas. Das Bett mit blauem Himmel steht mitten im Zimmer. Die Wäsche ist abgezogen. Frau Moina schläft nicht mehr hier. Das Kopfende stößt an eine Ausbuchtung der Wand. Einige Toilettegegenstände liegen noch umher. Sie verraten, daß das Zimmer nur von einer Dame benutzt wurde. Nicht ein einziges Stück verrät ein gemeinsames Schlafzimmer.
Hatte sich Frau Moina von Dr. Berton zurückgezogen?
Unglückliche Ehe? — —
Das ist sehr wichtig!
Durand schließt leise die Tür und nimmt seine Wanderung im Wohnzimmer wieder auf. Hier, auf dem Teppich neben dem Schaukelstuhl, ein Glassplitter. Durand schiebt den Fenstervorhang beiseite.
Das Fenster ist zerbrochen. Frau Moina hat die Öffnung mit Papier zugestopft. Unterhalb des Fenstersimses hat, deutlich sichtbar, ein Stiefel an der Tapete geschabt. Jemand hat also versucht, durch dieses Fenster zu entkommen, hat dabei das Glas beim heftigen Öffnen zerbrochen. Es kann sich nur um einen sehr schlanken Menschen gehandelt haben ... Es klingelt.
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