»Erzähl!«, sagte sie.
Marie dachte nach. Wo sollte sie anfangen?
Mathilda wusste ja nichts von den einsamen Nächten, wenn Runo nicht nach Hause kam. Sie wusste nicht, wie das war, Abend für Abend allein in der Wohnung zu sein. Wie es war, sich in das Bett von Mama zu legen und zu warten, und dann kam Papa nicht. Wie es war, unter der Decke zu liegen und an eine Mama zu denken, die es nicht mehr gab. Und dann einzuschlafen und aufzuwachen und zu denken, dass ihm was passiert sein könnte. Warum sonst war er um zwei noch nicht zu Hause? Wenn er doch um sechs schon zur Arbeit musste? Nachts passieren die merkwürdigsten Sachen. Überfälle, Raub, Mord und Verkehrsunfälle, Leute werden auf U-Bahn-Gleise gestoßen, Explosionen und Entführungen, manche verlaufen sich und ...
Davon hatte sie niemandem etwas erzählt, nicht mal Mathilda. Sie hatte sich nicht getraut. Vielleicht hatte sie geglaubt, Mathilda würde es ihrer Mama erzählen, und dann würde ihre Mama es der Lehrerin erzählen, und dann würde die Lehrerin etwas machen, dass Runo ... Nein, sie wusste nicht, was sie gedacht hatte. Sie wusste nur, dass sie es niemandem erzählt hatte.
Vielleicht war das dumm gewesen. Jetzt versuchte sie es also und Mathilda hörte zu, ohne etwas zu sagen. Es war förmlich zu spüren, dass sie zuhörte, und manchmal war an ihrem Luftholen zu hören, wie erstaunt sie war.
Als der Zug in Uppsala hielt, war Marie noch nicht einmal bei dem Schrecken von heute Morgen angekommen. Sie hatte von anderen Morgen im letzten Winter erzählt, was das für ein Gefühl gewesen war, wenn sie in die Schule musste, ohne zu wissen, wo Runo war – und natürlich auch ohne Frühstück. Wie es war, fröhlich auszusehen und so tun zu müssen, als ob nichts passiert war, obwohl sie Bauchschmerzen hatte und nur eins denken konnte: Wenn ihm nun etwas zugestoßen ist und er nie mehr nach Hause kommt. Wie sie sich das Denken verboten hatte und es schließlich auch ganz gut funktionierte, nach einigen Malen.
Doch es wurde immer Abend und dann kam Runo mit all seinen Erklärungen. Er erklärte es jedes Mal ganz genau und vielleicht stimmte es ja auch, aber was machte das für einen Unterschied? Er hatte einen Freund besucht, und dann war er so müde geworden, dass er eingeschlafen war. Und niemand hatte ihn geweckt, dummerweise. Oder er hatte ein Taxi anrufen wollen, aber leider hatte sein Freund die Telefonrechnung nicht bezahlt, also konnte er nicht anrufen. Oder ...
Um all die Entschuldigungen und Erklärungen abzubrechen, die Runo hervorsprudelte, sagte sie meistens: »Es macht doch nichts, dass du nicht gekommen bist, ich hab ja die ganze Nacht geschlafen.« Oder: »Ich war sowieso den ganzen Tag in der Schule.« Sie strengte sich an, fröhlich auszusehen, denn sie wusste, dass ein Papa wie Runo es so haben wollte. Seine Tochter sollte fröhlich sein. Und dann versprach er, dass es nie wieder vorkommen würde, und anfangs hatte sie ihm geglaubt.
Aber jetzt war es sechsmal passiert, dass er nachts nicht nach Hause gekommen war, und jetzt glaubte sie seinen Erklärungen und auch seinen Versprechungen nicht mehr. Sie hatte nicht mal mehr die Kraft, ihm zuzuhören. Und falls er jetzt zurückkommen würde – okay, unnötig zu übertreiben: wenn er jetzt zurückkommt –, dann ist sie nicht da. Sie hat ihm keinen Zettel hingelegt und sie wird ihn auch nicht anrufen. Sie macht es jetzt genau wie er!
Man sollte ihn anzeigen!
Mathilda sah wirklich nicht aus, als ob sie glaubte, was sie gehört hatte. Lange, nachdem Marie aufgehört hatte zu reden, sagte sie gar nichts. Und dann kam nur ein Flüstern:
»Das kann nicht wahr sein.«
Genau so hatte sie sich das vorgestellt. Niemand würde ihr glauben. Vielleicht hatte sie deswegen nichts sagen wollen. Nicht, weil sie Angst hatte, dass sie ihr Runo wegnehmen würden. Sondern weil ihr niemand glauben würde. Weil ihn doch alle so großartig fanden. Alle waren neidisch auf sie, dass sie so einen tolen Papa hatte. Und noch so jung!
»Runo ist doch total nett«, sagte Mathilda jetzt prompt, »das hast du selbst immer gesagt.«
Natürlich hatte sie das gesagt. Anfangs fand sie das ja auch. Sehr lange hat sie das geglaubt. Trotz allem.
Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe sie es erklärt hatte. Erst als Gävle schon ein ganzes Stück hinter ihnen lag, schien Mathilda es verstanden zu haben.
»Und was willst du jetzt machen? Wie willst du es schaffen, dass er sich ändert?«
So weit hatte sie noch nicht gedacht. Nur genau so weit, wie sie bis jetzt gekommen war: Sie hatte eine Fahrkarte gekauft, war in den Zug gestiegen und hatte alles erzählt. Zum ersten Mal alles erzählt.
Sie zog den Rucksack unterm Sitz hervor und tastete die Innentasche ab.
»Ich hab dreiundneunzig Kronen und bin kurz vorm Verhungern. Wir sind doch durch einen Restaurantwagen gegangen, oder?«
Aber Mathilda sagte, sie habe Proviant dabei, viel Proviant. Sie schwankte durch den Zug zu ihrem Wagen und wieder zurück und breitete Bananen, Schokolade, Apfelsinen, gekochte Eier und Käsebrötchen aus. Als sie den allerletzten Krümel verputzt hatten, sagte Mathilda, dass sie ihre Meinung über ihn geändert habe:
»Der ist ja verrückt. Man sollte ihn anzeigen!«
Dann schwieg sie mindestens zehn Kilometer lang, ehe sie wieder etwas sagte:
»Wie viele Nächte bist du allein gewesen?«
Marie dachte nach. Sie wollte es lieber genau nachrechnen, damit sie nicht übertrieb. Das erste Mal war es im Januar passiert, dann irgendwann im Februar und am Tag vor ihrem Geburtstag und ...
»An deinem Geburtstag war er aber zu Hause. Da hast du doch das tolle Geschenk bekommen.«
»An meinem Geburtstag ja, aber am Tag davor.«
»Nee, das kapier ich nicht, er hat dir doch eine Torte gebracht und ein Geburtstagslied gesungen und ...«
»Wirklich?«
»Ich erinner mich, dass du es erzählst hast.«
»Was hab ich erzählt?«
»Schade, dass du nicht gekommen bist, dann hätten wir zusammen Torte essen können, hast du gesagt, und da hab ich gesagt, dass ich kommen wollte, aber dass Mama vergessen hat, mich zu wecken, und du hast gesagt, das macht nichts, am Abend würde auch noch was von der Torte übrig sein und ...«
»Jaa, aber hab ich was von Runo gesagt?«
»Nein, aber die Torte, wer ...?«
»Ich hab die Torte selbst gekauft, weil ich wusste, dass er es vergessen würde.«
Mathilda starrte sie an.
»Hat er also wirklich vergessen ... er hat vergessen, zum Geburtstag seiner einzigen Tochter nach Hause zu kommen ... Aber ...«, sie unterbrach sich und dachte nach, »warte mal. So stimmt das auch nicht. Er ist nach Hause gekommen, als wir bei dir waren. Dann müsst ihr euch doch irgendwo vorher getroffen haben. Er hat dir nicht gratuliert und nichts.«
Was hat es für einen Sinn, das erklären zu wollen?
»Und das Geschenk! Ein ganzer Abend im Vergnügungspark mit ihm und du konntest alles haben, was du wolltest!«
»Jaa?«
»Dann kannst du doch nicht behaupten, dass er deinen Geburtstag vergessen hat.«
»Doch.«
»Aber das Geschenk ...«
»Er kapiert schnell. Als er reinkam und euch und die Torte gesehen hat, da hat er sich schnell ein Geschenk ausgedacht.«
Es sah Mathilda überhaupt nicht ähnlich, dass sie ihre Meinung so schnell änderte. Erst das eine zu finden und dann genau das Gegenteil. Jetzt sah sie plötzlich aus, als hätte sie ein Monster vor sich.
»Das ist verrückt, einfach verrückt. Wie kann er nur! Wie hältst du das bloß aus! Es müsste verboten sein, dass einer so vergesslich ist. Ich hasse ihn.«
Sie sah aus dem Fenster – sie hatten Ljusdal hinter sich gelassen und hier war es noch nicht Frühling. Schmutzige Schneehaufen auf der Erde, große Schneeflocken in der Luft, wintergrauer Himmel – brrr.
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