Annika Holm
Hilf mir, Mathilda!
Eine Geschichte vom Glück im Unglück
Aus dem Schwedischen von
Angelika Kutsch
Saga
Hilf mir, Mathilda!: eine Geschichte vom Glück im Unglück
Aus dem Schwedisch von Angelika Kutsch
Originaltitel: hur kunde hon! © 1996 Annika Holm
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711501252
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com
Sie muss es neunmal klingeln lassen, ehe sie Maries Stimme hört. Und dann nuschelt die Stimme so komisch, dass sie nicht sicher ist, ob sie wirklich Maries Stimme hört. Nach etwas, das wie Weinen und Schniefen klingt, kommen schließlich zwei Worte:
»Bis morgen.«
Dann ein Klicken und es ist still im Telefonhörer.
So ist es die ganze Zeit gewesen, seit Marie aus England zurückgekommen ist.
Schwankend.
Mal ist alles wie früher, besser als sonst. Beim nächsten Mal Kälte, Gewitter.
Aber?
Diese Stimme? Traurig, stoßweise, schnupfig ...
Wie spät?
Halb zehn.
Spät, aber nicht zu spät.
Mathilda steht auf, zieht die Sachen an, die sie vor einer Weile auf den Fußboden geworfen hat. Geht durch die Küchentür hinaus, läuft gegen den Wind auf Maries Haus zu. Sie hat Glück. Jemand schließt gerade die Haustür auf, und Mathilda schlüpft mit hinein.
Aber die Wohnungstür bleibt verschlossen. Mathilda hebt die Briefkastenklappe an und späht hindurch. Drinnen brennt Licht. Niemand redet, aber sie hört, dass jemand da ist.
»Marie«, flüstert sie durch den Briefkastenschlitz. »Ich bin’s doch nur.«
Als die Tür endlich aufgeht, ist es nicht Marie, sondern Sunniva, die sie öffnet.
»Komm rein!«
Rasch zieht sie Mathilda in den Vorraum und seufzt:
»Es ist alles ziemlich durcheinander.«
Mathilda guckt sich um und findet überhaupt nicht, dass irgendwas durcheinander ist. Alles hat seinen Platz. Der rote Lampenschirm wirft einen Kreis über die Sofaecke, die Kissen liegen da wie immer und die Astern auf dem Tisch sind kein bisschen verwelkt. Im Radio singt jemand ein Lied über Vögel. Nichts ist durcheinander, es ist wie immer: gemütlich und wunderbar.
Aber die Tür zu Maries Zimmer ist geschlossen. Sunniva hat rote Augen, auf ihren Wangen sind Spuren von verlaufener Wimperntusche. Hastig stellt sie die Musik ab.
»Was ist los?«, flüstert Mathilda. Sie hat plötzlich Angst. Warum ist die Tür geschlossen? Warum kommt Marie nicht heraus? Sie schläft doch noch nicht! Warum hat ihre Stimme so komisch geklungen?
»Nun sag schon!«, stößt sie hervor. »Was ist passiert?«
Sunniva setzt sich aufs Sofa und klopft mit einer Hand neben sich. Mathilda soll sich setzen. Aber sie kann nicht. In ihrem ganzen Körper ist ein Kribbeln, sie kann die Füße nicht still halten und schafft es nicht, die Knie zu beugen.
Sunniva guckt zu ihr herauf, lächelt ein wenig und sagt etwas, das Mathilda kein bisschen klüger macht.
»Ich weiß nicht«, sagt sie.
»Was weißt du nicht?«, schreit Mathilda. »Natürlich weißt du es. Das seh ich dir doch an.«
»Ich bin krank«, sagt Sunniva da, »deswegen hat Marie sich eingeschlossen.«
Krank! Aha! Wenn’s weiter nichts ist! Aber wie krank? Erkältet? Sunniva wirkt nicht erkältet. Sie wirkt überhaupt nicht krank. Aber wieso hat sich Marie dann eingeschlossen? Hat Mathilda sich verhört? Ist Marie krank? Nein, sie kapiert gar nichts. Sie macht einen Schritt, aber Sunniva streckt den Arm aus und zieht sie aufs Sofa. Als Mathilda sitzt, legt Sunniva den Arm um sie.
»Es ist das Beste, ich erzähle es dir auch.«
»Jaa«, flüstert Mathilda und wartet auf die Fortsetzung, die sie eigentlich gar nicht hören will. Die lässt auf sich warten. Es vergehen bestimmt mehrere Minuten, ehe sie kommt. Als Sunniva endlich redet, schaut Mathilda sie nicht an, sie guckt gerade vor sich hin, auf die roten Astern in der Vase, auf den gelben Fleck in einer Blüte, die fast auf dem Tisch liegt.
»Ich war heute beim Arzt, weil ich in letzter Zeit so schwer Luft kriege. Er hat gesagt, dass mein Herz nicht in Ordnung ist. Deswegen hat er mich krankgeschrieben. Ich darf erst wieder arbeiten, wenn sie herausgefunden haben, was los ist.«
Zuerst ist Mathilda froh. Es ist ja gar nichts Schlimmes. Marie ist nicht krank. Mathildas Augen lassen die Blumen los, und sie guckt Sunniva erleichtert an.
»Aber warum stellt sich dann Marie so an? Das kapier ich nicht.«
»Ich auch nicht«, murmelt Sunniva. »Sie ist wütend geworden, als ich ihr erzählt hab, dass ich krank bin. Vielleicht ist es auch Angst. Ich weiß es nicht. Ich weiß eigentlich auch nichts.«
»Weswegen sollte sie Angst haben? Klar ist es blöd, dass du nicht arbeiten kannst. Aber deswegen braucht Marie doch nicht ...«
Die Tür zu Maries Zimmer geht auf, und heraus kommt die ganz normale Marie. Kein bisschen verweint oder böse oder sonst was. Eben wie immer.
»Ich bring dich nach Hause«, sagt sie und fängt an, ihre Schuhe zuzuschnüren.
»Gut!«, sagt Mathilda und steht auf.
»Halt!«, sagt Sunniva. »Kleine Mädchen dürfen abends nicht im Finstern rumrennen. Wir bringen dich beide nach Hause, und dann geh ich mit Marie zurück.«
Jetzt haben sie den Wind von hinten, so kräftigen Wind, dass sie fast fliegen. Als Marie ihre Arme ausbreitet, macht Mathilda das Gleiche. Sie werden so schnell, dass sie einer Reihe Büsche nicht ausweichen können, die plötzlich im Weg sind. Sie bleiben eine Weile im Gebüsch stehen, damit Sunniva sie einholen kann. Aber sie sagen nichts. Auf dem ganzen Weg sagen sie nichts. Nur Gute Nacht und vielen Dank fürs Bringen und wir sehn uns morgen.
Bevor Mathilda ins Haus geht, dreht sie sich um. Sie sieht, wie Marie und Sunniva einander bei der Hand nehmen und sich gemeinsam gegen den Wind stemmen.
An der Tür zu ihrem Zimmer bleibt sie stehen, um Mama zu erzählen, was passiert ist. Aber dann überlegt sie es sich anders.
»Gute Nacht«, sagt sie nur. »Ich bin noch mal um den Block gerannt. Das macht Spaß, wenn es so stürmt.«
»Ja, wirklich, ein schrecklicher Sturm«, sagt Mama und steht gähnend vom Sofa auf. »Der Wetterbericht sagt, es soll noch schlimmer werden.«
Sie reden nicht über das komische Telefongespräch. Auch nicht über Sunnivas Herz. Nicht mal, als Marie drei Tage bei Mathilda wohnt, weil ihre Mama im Krankenhaus ist, nicht mal da reden sie über das, was Sunniva Mathilda an jenem stürmischen Abend erzählt hat.
Aber sie reden über anderes. Sie reden ununterbrochen miteinander, von der Sekunde an, wenn sie das Klassenzimmer verlassen, bis zu dem Augenblick, wenn der Schlaf sie übermannt. Oft reden sie über die Jungen in der Klasse, welcher der Netteste, Hübscheste, Mutigste, Hilfsbereiteste ist ...
Sie zeichnen ein Gitter von Karos auf zwei zusammengeklebte Bögen Zeichenpapier. An den linken Rand schreiben sie die Namen der Jungen, vor jedes Karo einen. An der Oberkante schreiben sie nebeneinander alle Eigenschaften auf, die ihnen einfallen.
Marie liegt auf dem Fußboden und schreibt, Mathilda sitzt auf ihrem Bett und macht Vorschläge. Albert bekommt an der Stelle ein Kreuz, wo sein Name das Wort »Hübsch« kreuzt. Achims Kreuz landet unter »Hilfsbereit«, Antes unter »Am nettesten«. Und Arne?
»Gut in der Schule«, beschließt Mathilda. Doch Marie richtet sich nachdenklich auf.
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