„Hatten Sie in der Vergangenheit schon einen Mordfall mit einer Wasserleiche?“
„Nein, ich hatte bisher überhaupt noch keinen Mordfall zu bearbeiten. Sie wissen ja, dass ich erst seit Kurzem bei der Polizei bin. Nein, zu einem Mord habe ich es bisher nicht gebracht. Glauben Sie, dass dieser Traum etwas mit meinem Beruf und gar nicht mit dem anderen Problem zu tun hat? Übrigens gab es nach diesem, ich möchte fast sagen, beeindruckenden Schlussbild der weißen Frau im Mondlicht sofort einen erneuten Schnitt. Wieder war ich in einer großen Wohnung oder vielleicht war es diesmal ein Haus. Es war ein mir unbekanntes Haus, erinnerte mich beinahe an ein Schloss, so weit verzweigt waren seine Räume. Ich war hier offenbar weder zu Hause noch geladener Gast. Vielleicht trieb ich mich, Sie würden vielleicht sagen, in voyeuristischer Absicht umher. In einem Zimmer, das zu einer offenbar zusammenhängenden Zimmerflucht gehörte, befand sich eine junge Frau mit ihrem ungefähr drei- bis vierjährigen Sohn. Vielleicht spielten die beiden miteinander oder sie half ihm beim Anziehen oder vielleicht saßen sie bloß auf der Bettkante und sprachen miteinander. Ich weiß es nicht. Die Frau und der Bub sahen mich nicht oder nahmen mich nicht wahr, weil ich wieder nicht anwesend war. Nein, diesmal war ich anwesend, war für die beiden aber nicht sichtbar, weil ich wohl hinter einer Tür oder einem Vorhang stand. Gerade als ich mich entschloss, mich den beiden zu zeigen, schienen andere Familienangehörige nach Hause zu kommen. Es hatte für mich den Anschein, als wohnte in diesem Haus eine amerikanische Großfamilie, deren einer Teil von einer Reise heimgekehrt war. Mit großem Lärm kamen viele Kinder unterschiedlichsten Alters in ein riesiges Esszimmer gerannt, wo man das gemeinsame Abendessen einnehmen wollte. Die junge Frau mit ihrem kleinen Sohn mochte die Tante dieser Kinder sein, auch sie wurde zum Essen gerufen. Irgendwie muss es mir gelungen sein, mit der jungen Frau, die naturgemäß Claudia Schiffer ähnlich sah, auf dem Weg von ihrer Suite ins Esszimmer in Kontakt zu treten. Da das Haus – oder Schloss? – sehr groß war, muss einige Zeit vergangen sein, bis wir das Esszimmer erreichten. In dieser Zeitspanne kam es zu einer gewissen Annäherung zwischen ihr und mir, aber nicht in dem Sinne, wie Sie das jetzt vermuten. Nein, dazu reichte auch die irreale Zeitdimension meines Traumes nicht aus. Die Zeit musste aber ausreichend gewesen sein, um bei uns gegenseitige Sympathien entstehen zu lassen. Und ich hatte den Eindruck gewonnen, es würde sich lohnen, das Abendessen der Großfamilie abzuwarten, um mich danach mit ihr zu treffen. Im Esszimmer angekommen, ereignete sich jedoch das Sonderbare: Ich wurde von den übrigen Familienmitgliedern offenbar nicht wahrgenommen, obwohl ich in meinem Traum tatsächlich existierte. Das konnte ich an den Reaktionen der jungen Frau und ihres Sohnes erkennen, die mir immer wieder sonderbare Blicke zuwarfen. Für die anderen im Raum war ich hingegen unsichtbar. Daraus ergab sich, dass ich nicht die Möglichkeit erhielt, offiziell am Essen teilzunehmen. Ich bewegte mich daher zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, die noch dieses und jenes aus der Küche holten, sich an den Tisch setzten und wieder aufsprangen. Dabei bemerkte ich, dass ich zwar unsichtbar, aber nicht unfühlbar war. Denn einige der Anwesenden stießen gegen mich, wenn ich unvorsichtigerweise meine zu begehrlichen Blicke auf die junge Frau richtete und nicht gewahrte, dass ich jemandem im Weg stand. Im Grunde hatte das Ganze etwas von jenen Slapstick-Filmen, in welchen Leute über unsichtbare Gegenstände fielen und sich wunderten, was um sie herum vorging. Für mich wäre dieser Teil meines Traumes letztlich nur mühsam gewesen, wenn nicht die gelegentlichen Zusammenstöße meine Angebetete veranlassten, immer wieder die absurdesten Erklärungen für das Taumeln ihrer Verwandten zu geben. Sie tat dies mit einer solchen Beflissenheit, dass ich daraus den Schluss zog, dass sie mit allen Mitteln verhindern wollte, dass die übrigen Anwesenden von meiner Existenz erfuhren. Wohl in einer gewissen Blindheit der jungen Verliebtheit wollte ich mich glauben machen, dass sie sich auf das vor uns liegende Treffen ebenso freute wie ich mich.“
„Und kam es zu diesem Treffen, bei dem wieder einmal das Unaussprechliche geschah?“
„Nein, diesmal nicht, ich wachte wahrscheinlich eine Minute zu früh auf.“
Es war kühl an diesem Morgen und sehr windig. Der See war aufgewühlt, als Waagner und Wullner ihre morgendliche Joggingrunde um den Mondsee machten. Sie sahen die Haubentaucher verschwinden und erst geraume Zeit später an einer weit entfernten Stelle wieder auftauchen. Soweit Waagner nicht gerade Seitenstechen wegen des für einen Anfänger wie ihn ständig zu hohen Tempos hatte, machte er Wullner mit neuen Ideen für seinen Krimi vertraut. Von Zeit zu Zeit machten sie am Seeufer eine Pause, um die Landschaft auf sich wirken und Waagner wieder zu Luft kommen zu lassen. Dies nutzte Waagner, dem an der sportlichen Ertüchtigung weit weniger lag als an der Möglichkeit, einen Zuhörer für seine Geschichte an der Hand zu haben, immer wieder dazu, Wullner mit Episoden aus dem langsam Gestalt annehmenden Krimi zu verwöhnen. Da die einzelnen Geschichten meist aus dem Zusammenhang gerissen waren, war es Wullner freilich kaum möglich, dem Geschehen wirklich zu folgen. Und auch wenn er gelegentlich Einwände gegen einzelne Handlungsstränge oder Einfälle seines Freundes hatte, Wullner war in die Rolle des passiven Zuhörers gedrängt, seine Fragen und Vorschläge verhallten im Wind, Waagner ließ sich in seinen Monologen nicht stören. Er würde auch berechtigte Kritik nicht beachtet haben, er würde sich über jeden konstruktiven Einwand hinweggesetzt haben, er erzählte, lief, bekam Seitenstechen, lief trotzdem weiter, erzählte, machte endlich eine Pause mit dem Laufen, nicht jedoch mit dem Erzählen und erzählte und erzählte.
Begonnen hatte alles, als wir bei Maiers eingeladen waren. Es war Carmens 35. Geburtstag, den sie in ihrem neuen Haus feierten. Meine Frau und ich waren sehr angetan von Maiers neuer Villa. Auch wenn sie nicht zur Gänze renoviert war – es fehlte noch der neue Außenputz –, war sie ein wahres Jugendstiljuwel, das uns als Liebhaber alter Häuser, Möbel und Musik sehr gut gefiel. Ich hätte es ja bei dieser neidlosen Anerkennung eines vortrefflich gelungenen Eigenheims bewenden lassen wollen. Meine Frau aber meinte, dass es sehr wünschenswert wäre, wenn wir ebenfalls ein Haus mit Garten hätten. Wir lebten nun schon seit bald zehn Jahren in einer gemütlichen Altbauwohnung in einem Innenstadthaus. Dass dieses Haus mir gehörte, galt in diesem Zusammenhang nichts, denn es ging meiner Frau in erster Linie um den Garten. Und unser Haus hatte lediglich einen sehr winzigen, von der Sonne selten beschienenen Innenhof, der außer für eine Biotonne zu nicht viel mehr taugte. Außerdem war er natürlich von allen Bewohnern der umliegenden Häuser einsehbar, was mir eine nähere Beschäftigung mit diesem Hof nicht sehr opportun erschienen ließ. Für meine Frau war die mangelnde Größe das Entscheidungskriterium, denn wo hätte man in diesem Hof einen Swimmingpool aufstellen sollen? Kurzum, wenige Tage später hatte sie bereits ein Haus in Erfahrung gebracht, das ob seines desolaten Bauzustandes geradezu nach einem neuen Eigentümer schrie. Es war nicht weit von Maiers Villa entfernt und schien geeignet, dass wir nach entsprechenden Renovierungsarbeiten zumindest knapp unter Maiers Augenhöhe sein konnten. Über Bekannte hatte meine Frau erfahren, dass dieses Haus dem Rechtsanwalt Oberfettinger gehörte, den sie bereits aus Studientagen kannte.
Der stets in einen feschen Steireranzug gewandete Rechtsanwalt – Zeichen seiner stolzen Herkunft oder seiner mangelnden Loyalität der neuen Heimat gegenüber? – machte uns bei der ersten Besichtigung mit seinem Wunschpreis und seiner Eigenart, beständig für Überraschungen zu sorgen, bekannt. Was den Kaufpreis betraf, eröffnete uns Oberfettinger, dass er selbst verwundert darüber war, dass die Leute so viel für dieses Haus zu zahlen bereit seien, eine Aussage, die er in den nächsten Monaten noch des Öfteren wiederholen sollte, insbesondere, als sich herausstellte, dass die Kaufinteressenten sogar willens waren, mehr zu zahlen, als er anfangs verlangt hatte. Für uns war bei dieser ersten – letztlich nur halben – Besichtigung etwas irritierend, dass er keinen Schlüssel für das Haus hatte und wir uns deshalb mit einer Betrachtung der Außenmauern und des davon abbröckelnden Verputzes begnügen mussten. Erst in einem zweiten Anlauf rund einen Monat später ließ uns Oberfettinger in das Innere der Ruine Einsicht nehmen. Bei diesen ersten beiden Kontakten mit Oberfettinger war mir nicht nur sein Steireranzug widerwärtig, sondern auch seine sehr herablassende Haltung. Die zweite Besichtigung ließ meine Frau und mich zwar nicht unbedingt in grenzenlose Schwärmerei für die kleine Villa oder, wie sie ein Baumeister später nennen sollte, für diese „Vorstadtkeuschen“ ausbrechen, sie führte allerdings zu der uns geradezu beglückenden Erkenntnis, dass die Raumaufteilung für unsere beabsichtigte Nutzung nicht völlig ungeeignet zu sein schien.
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