Der Tisch war mit Kerzen und Tannengrün geschmückt, er sah wirklich hübsch aus. Und die Täuflinge benahmen sich hervorragend, nuckelten ihre Fläschchen und schliefen dann im Nebenzimmer, wohin man sie verfrachtet hatte, dick und satt ein.
„Dick und satt bin ich auch“, verkündete Tante Sabine, die eine Taille hatte wie eine Mondscheinprinzessin, „ich muß mich jetzt unbedingt rühren, sonst habe ich fünf Pfund Schlachtgewicht drauf, und dann paßt mir kein Kleid mehr. Darf ich spülen gehen?“
„Nein, das darfst du nicht!“ sagte Mutter mit lachenden Augen, „weißt du, was mein Teurer mir zur Taufe geschenkt hat? Eine Spülmaschine! Ist das nicht wunderbar? Nun brauche ich nie mehr abzuwaschen!“
„Und ich nicht mehr abzutrocknen, das hasse ich!“ flüsterte Anja so laut zu Petra hinüber, daß alle es hörten und lachen mußten. Mutter erhob sich.
„Aber einräumen darfst du die Maschine, Sabine, wenn du möchtest. Komm, ich zeige dir, wie man es macht. Und dann ...“
„... gehen wir ein Stück in den Schnee hinaus, ehe es dunkel wird“, schlug Vater vor. „Die Jungen schlafen, und die frische Luft und etwas Bewegung täten uns allen gut.“
„Ja! Zum Reitverein!“ rief Petra sofort. „Dort wird heute geübt fürs Nikolausreiten, ich wäre dabei, wenn ich nicht hierher eingeladen worden wäre. Aber die Rumpel macht bestimmt, was sie soll, ich komm’ gut mit ihr aus, auch wenn ich sie einen Tag weniger reite. Kommen Sie?“
Ihr Gesicht war eine einzige Frage. Vater lachte.
„Dir kann man nicht widerstehen. Und wir wollten schon lange einmal hin und uns ansehen, was Anjas ein und alles ist, seit wir hier wohnen.“ Er sah seine Frau an und nickte ihr zu. „Meinst du, die Jungen tun uns den Gefallen und schlafen noch ein Weilchen?“
„Bestimmt. Es sind ja nur ein paar Schritte!“ sagte Mutter. Und dann zogen sie alle miteinander los.
Anja war nicht recht wohl in ihrer Haut. Nie, niemals hätte sie gewagt, die Eltern einfach aufzufordern, daß sie mitgingen; vielleicht war das dumm. Vielleicht fanden sie es wunderschön dort ...
Eltern finden ja immer ein Aber. Immer, immer. Wenn man von irgendwas begeistert ist, finden sie es gefährlich oder nicht passend – „dazu bist du noch zu klein“ – oder zu teuer. Anja kannte das schon. Sie war so lange Mutters Einzige gewesen, ihr ein und alles, gewiß, aber doch lebenslang ihr Baby. Nicht auf der Straße radfahren, nicht allein oder mit Freundinnen schwimmen gehen, nie später als um sieben zu Hause sein. Und so klein ist man mit zehn Jahren doch wahrhaftig nicht mehr. So ging sie also mit etwas zwiespältigen Gefühlen an diesem Adventssonntag mit der ganzen Familie den Weg, den sie sonst jeden Tag heimlich lief, eilig, sich dauernd umguckend, ob Mutter ihr etwa nachsah.
Der alte Stall mit dem gemütlichen Walmdach machte sich im Schnee wunderschön, und der Halle, die, etwas unterhalb gelegen, modern und zweckmäßig gebaut war, stand der weiße Schmuck auch gut. Sie gingen darum herum und an der anderen Seite hinein, weil geritten wurde. Petra schob die schwere Tür lautlos auf, und nacheinander traten sie an die Barriere. Dort standen ein paar Bänke, so daß man sich setzen konnte. Es war kalt, man sah den Hauch vor dem Mund.
Die Halle war schon für das Nikolausreiten vorbereitet und wirkte deshalb verändert. In der Mitte hatte man vier Hindernisse zu einem Kreuz aufgebaut, in dessen Mitte ein riesiger Tannenkranz lag. Die Hindernisse waren nicht hoch, etwa 80 Zentimeter, und an ihren Enden stand je eine dicke Kerze, die aber heute noch nicht angezündet war. Vier Reiter in schwarzen Jacken und Kappen bewegten ihre Pferde, ritten zunächst nur auf dem Hufschlag in der Halle rundum, erst im Schritt, später im Trab. Der Reitlehrer stand etwas abseits der Hindernisse und gab die Kommandos.
„Dort ist meine Rumpel, Paul reitet sie heute“, flüsterte Petra aufgeregt. „Es müssen vier sein, sonst geht es nicht auf. Sie reiten eine Springquadrille.“
Ja, es wurde sehr spannend. Petras Aufregung steckte an. Jetzt hieß es „Galopp marrrrsch!“, und sogleich fielen alle vier in Galopp. Erst auf dem Hufschlag, dann, nachdem der Reitlehrer ein Zeichen gegeben hatte, im Kreis und so, daß sie jedesmal eins der Hindernisse nahmen. Das sah leicht und gefällig aus, war aber, wie Petra hinterher erklärte, „sauschwer“, denn jedes Pferd mußte genau im selben Moment springen wie die drei anderen, und keines durfte aus dem Takt kommen. Heute war ja erst Probe und Training, und Flieder hatte, wie man sah, seinen widerspenstigen Tag. Er weigerte sich gleich das erste Mal und mußte mit der Gerte zurechtgewiesen werden, was er sehr übelnahm. Man sah seinem Schweif an, mit dem er seitlich schlug, wie ärgerlich er war. Sein Reiter mühte sich nach Kräften, ihn im Takt zu halten, er ritt im leichten Sitz und trieb, daß ihm das Wasser von den Schläfen an den Wangen heruntersickerte.
„Da – da – na, es ging gerade noch“, flüsterte Anja und ließ kein Auge von ihm. Petra hatte die Zähne in die Unterlippe gegraben und verfolgte schweigend den Ritt, was bei ihr ein Zeichen von sehr starker Konzentration war. Sonst schwätzte sie ohne Pause, jetzt aber war sie unheimlich still.
Nach einer Weile ging es wieder rundum im Galopp, ohne zu springen. Reiter und Pferde atmeten auf, dann aber kam eine neue, noch viel schwierigere Aufgabe. Zwei Reiter mußten von der einen Seite über den großen Kranz springen und zwei von der anderen, aber abwechselnd, immer einer nach dem anderen. Auch das sah einfach aus, wie eine Art Reigen, es klappte aber überhaupt nicht. Flieder scheute vor dem Kranz und ging hoch, so daß sein Reiter fast aus dem Sattel kam, und Wisky drehte überhaupt ab und wandte dem Hindernis den Schweif zu, unmißverständlich zeigend: „Ich mach’ euern Quatsch nicht mit.“ Thielo, der draufsaß, ließ das Tier daraufhin ein paar Runden im schnellen Galopp gehen, um ihn mürbe zu machen. Der Reitlehrer schimpfte.
„Der ist wohl sehr streng?“ fragte Vater Petra ganz leise. Petra nickte, ohne den Blick von den Pferden zu wenden. Anja sah den Reitlehrer an, vor dem sie immer schon großen Respekt gehabt hatte.
Eigentlich sah er gut aus. Er hatte ein faltiges, verschlossenes Gesicht, war meist ruhig. Seine Bemerkungen aber, wenn jemand mit seinem Pferd nicht zurechtkam, waren bissig und von allen Schülern gefürchtet. Auch Thielo, ein anerkannt guter Reiter, hatte jetzt vor Verlegenheit einen roten Kopf.
„Und noch mal – erst Flieder, dann Rumpel –“
Beide sprangen.
„Jetzt Wisky – los, treib ihn, er muß tun, was der Reiter will!“
„Himmel, nein, das ist kein Kinderspiel. Und da reitest du schon mit?“ fragte Vater, als in der Halle eine Pause eingelegt wurde. Die Reiter durften im Schritt rundum reiten, sie wischten sich immer wieder den Schweiß von der Stirn und klopften ihren Pferden die Hälse. Die Pferde dampften so, daß die Spiegel rechts und links an den langen Seiten der Halle beschlugen. „Wie alt bist du denn?“
„Zwölf. Ich werde nächstes Jahr aber schon dreizehn“, sagte Petra eilig. „Und so schwer, wie es aussieht, ist es gar nicht. Die Rumpel – ich kenn’ sie doch. Ich kenn’ sie besser als Paul, wenn der auch gut reitet. Er ist Bereiterlehrling, wissen Sie.“
„Hm. Und da muß man von Anfang an solche Figuren reiten und wird angeschimpft, wenn das Pferd es nicht tut.“ Vater machte ein bedenkliches Gesicht. In Petras Kopf ging ein Licht auf.
„Zu Anfang? Keine Spur!“ eiferte sie. „Das macht man erst, wenn man schon lange reitet, schon jahrelang.“
„Jahrzehnte“, vollendete Vater trocken, „du bist wohl schon als Baby geritten.“
„Aber nein, so doch nicht.“ Petra mußte lachen. „Als Anfänger reitet man nur Schritt und Trab in der Abteilung, das heißt, die allerersten Stunden sogar an der Longe.“ Galopp unterschlug sie, sie wußte aus langer Erfahrung, daß Leute, die nichts vom Reiten verstehen, Galopp für schwer und gefährlich halten, und dabei ist Galopp so leicht und so angenehm ...
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