Lise Gast
Die schönsten Pferdegeschichten
Saga Egmont
Die schönsten Pferdegeschichten
Copyright © 1991, 2018 Lise Gast und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711509135
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
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Anja hat nur einen Wunsch
„Anja! Anja, wo steckst du?“
Das war Mutter. Immerzu rief sie, immerzu sollte man etwas, hier nur mal anfassen und dort zugreifen, den Koffer holen und das Paket aufschnüren – nicht eine Sekunde blieb einem für sich selbst. Und Anja hatte sich so gefreut, daß nun alles anders, besser, schöner würde.
Mutter hatte nun wieder geheiratet. Einen jungen, freundlichen, netten Mann – es war nichts gegen ihn zu sagen. Und als sie dann nach einem Jahr Zwillinge bekam, zwei kleine Brüder für Anja, hatte die sich auch gefreut – immer hatte sie sich Geschwister gewünscht. Und nun war die Familie auch noch umgezogen, hatte ein hübsches Reihenhaus am Rand der Stadt gemietet, sogar mit einer Art Garten drum herum, auch das hatte sich Anja gewünscht. Daß man in einem neuen Haus nicht von heute auf morgen eingerichtet sein konnte, sondern erst einmal in einem Wust von Koffern, Kartons, Taschen und aufeinandergestapelten Umzugskisten unterging, das hatte sie nicht voraussehen können; es war ja der erste Umzug, den sie erlebte. Solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie mit Mutter in einer kleinen Etagenwohnung in der Stadt gewohnt. Beinahe wünschte sie sich jetzt, es wäre alles beim alten geblieben.
Nein, das doch nicht. In der alten Wohnung war es sehr eng, und auf der Straße konnte man nur auf dem Fußweg gehen und auch dort nur an der Häuserseite, so eng war alles, so nahe rauschten die Autos vorbei. Hier lief die Hauptstraße ein ganzes Stück entfernt vorüber, man hörte die Autos zwar, aber nur wie ein schwaches Zischen. Die Straße, in die sie gezogen waren, lag abseits, und wenn ein Auto kam, dann gehörte es hierher und fuhr langsam.
Vor dem Haus, das nun „ihr“ Haus sein würde, öffnete sich sogar ein kleiner Platz, auf dessen gegenüberliegender Seite sich ein niedriger Einkaufsladen befand. Und ein Stück entfernt, aber doch nahe genug, daß man sagen konnte „bei uns“, stand eine moderne Kirche, grau, mit bunten Fenstern und einem Turm, der ein Stück vom Hauptgebäude entfernt aufragte. Anja fand die Kirche von Anfang an wunderbar.
Mutter hatte aufgehört zu rufen. Na schön, da brauchte man also nicht zu antworten. Anja drückte sich am Zaun entlang davon. Bald hörten die Häuser auf, und man kam auf freies Gelände. Das war neu für sie, die mitten aus der Stadt kam, und hatte etwas Aufregendes, Erregendes an sich, so, als wäre plötzlich eine alte Haut von einem abgefallen. Ähnlich war ihr zumute gewesen, als sie zehn Jahre alt wurde, den ersten Geburtstag mit zwei Zahlen feierte. Zehn – das war mehr als ein Jahr älter, das war ein Schritt in eine neue Landschaft.
So war es auch jetzt und hier. Anja ging langsam und wie tastend um das letzte Haus herum, kroch unter einem Zaun durch, der hier eine weite freie Fläche abgrenzte, und stand auf einer Wiese. Drüben, ziemlich weit entfernt, sah man einen Bahndamm, darüber die Autostraße, dahinter, aufsteigend, den Wald. Das Ganze hell, weit – ein wenig blaß; die Sonne hatte um diese Jahreszeit keine große Kraft mehr – und fremd. Anja blieb stehen. Nein, nicht weiter, nicht ganz allein in dieser Weite sein müssen. Lieber hielt sie sich am Zaun. Bis sie etwas sah …
Auf der Wiese, nicht weit von ihr entfernt, stand etwas Großes, Dunkles, Lebendiges – Anja holte kurz Atem: ein Pferd. Ein richtiges Pferd, dunkelbraun mit einer gelblichen Mähne, die teils rechts, teils links am Hals herunterhing, in groben Wellen, die wie Bindfäden aussahen. Anja merkte nicht, wie sie sich in Bewegung gesetzt hatte und, wie magnetisch angezogen, auf das Pferd zuging, Schritt für Schritt. Jetzt wandte es den Kopf und sah zu ihr her.
„Ja, du, wie heißt du denn?“ hörte Anja sich selbst halblaut fragen. „Heißt du Fury? Nein, sicher nicht. Fury sieht anders aus, ganz anders. Darf man dich streicheln?“
Es war kein schönes Pferd, kein Bild auf Glanzpostkarte mit rassigem Kopf und wildschönen Augen. Und es stampfte nicht feurig mit den Vorderbeinen, sondern stand still und ein wenig X-beinig da, schlug ein bißchen mit dem Schweif, daß er an den Flanken entlangstrich, und war bei aller Größe und Breite ziemlich mager. Die Knochen rechts und links an der Kruppe stachen vor, man sah auch die Rippen. Und auf der Nase entlang zog sich ein heller Streifen, er ging von der Stirn bis auf die Oberlippe herunter. (Man nennt das „Laterne“, wie Anja später erfuhr.) Um die Nüstern herum hatte es einzelnstehende, ziemlich grobe Haare. Anja streckte schüchtern die Hand aus.
Zucker müßte man haben oder Brot oder eine Mohrrübe. Das Pferd sah sie so zutraulich an, so überzeugt davon, daß sie ihm etwas brachte. Ganz schnell fuhr sie mit beiden Händen in die Taschen ihrer Jeans. Vielleicht war doch … richtig, Hustenbonbons! Vater – der neue Vater – hatte ihr gestern welche gekauft.
„Süßigkeiten sind nichts Gutes, aber wenn man so schrecklichen Husten hat wie du …“ Er blinzelte sie vergnügt an, während er ihr die Tüte zusteckte. Sie hatte ein einziges Mal gehustet, und das nur, weil sie sich verschluckt hatte.
Mit ein wenig fahrigen Fingern wikkelte sie das erste Bonbon aus und steckte das Papier in die Tasche zurück.
„Komm, hier, siehst du? Magst du so was?“ schmeichelte sie und hielt es dem Pferd auf der flachen Hand entgegen. Daß man das so macht, wußte sie, sie hatte ja schon oft Pferde mit Zucker gefüttert, wenn sie mit Mutter spazierengegangen war.
Die Lippen des Tieres fuhren suchend über ihre Hand, nahmen das Bonbon, und dann knirschte es zwischen den Zähnen. Anja wickelte das nächste aus. Und dann, während das Pferd dieses zerbiß, trat sie näher heran und legte den Arm um den herniedergebogenen Pferdehals. „Bist mein Gutes, Gutes“, flüsterte sie zärtlich.
Lockere, warme, blanke Haut. Ein Geruch, mit keinem anderen zu vergleichen. Ein leises Schnauben, das „Ja!“ hieß, ganz deutlich „Ja!“. Anja lächelte zu dem Pferdekopf empor.
Später hörte sie Schritte. Jemand kam auf sie und das Pferd zu, ruhig, langsam, so, daß man nicht erschrak. Anja nahm den Arm nicht vom Hals des Pferdes, sie sah zu dem Mann auf, der herangetreten und neben ihr stehengeblieben war.
„Na, da hat ja unser Kerlchen jemanden gefunden, der mit ihm schmust“, sagte eine freundliche Stimme. Anja lächelte und drückte ihre Wange noch fester an den Pferdehals.
„Heißt er Kerlchen?“ fragte sie. Sie war überhaupt nicht schüchtern wie sonst, wenn sie mit fremden Leuten zusammenkam, sondern ganz und gar einverstanden damit, daß sie sich hier mit einem fremden Menschen unterhielt. Er sah sie aufmerksam an.
„Eigentlich heißt er Rodi. Aber ich nenne ihn immer Kerlchen, weil er so – so ein armes Kerlchen ist.“ Der Mann lächelte. Sein Gesicht wurde dadurch unwahrscheinlich freundlich, dieses altersgraue, mit tiefen Falten durchsetzte Männergesicht. Es war nicht schön, aber unbeschreiblich angenehm, es strahlte eine tiefe und überzeugende Fröhlichkeit aus – Anja hatte so etwas noch nie erlebt.
„Ja?“ fragte sie halblaut, beglückt.
„Ja. Das gefällt ihm, daß du ihn liebhast.“
Sie standen ein Weilchen, Anja streichelte das Pferd, und der alte Mann sah ihr dabei zu. Dann fragte er:
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