„Na, du machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter“, hörte sie plötzlich jemanden sagen, und gleich darauf strahlte ihr Gesicht auf: Cornelia. Sie kam den Fußweg entlang, in Cordhosen und Gummireitstiefeln, die Schultertasche links, in der rechten Hand eine Tüte vom Supermarkt. Ihr Wagen parkte am Gehsteig gegenüber, ein alter roter, nicht sehr eleganter VW. Aber er paßte so richtig zu Cornelia.
„Ach. Weil ich –“ Sie wies mit dem Kinn auf ihre Kinderwagenfracht. „Immer muß ich die kleinen Brüder ausfahren, das ist so langweilig.
„Immer? Ach, so oft doch vielleicht nicht. Gestern warst du doch den ganzen Nachmittag im Reitverein.“ Cornelias Stimme klang munter, und sie hatte solch einen flotten, vergnügten Schritt – Anja schloß sich unwillkürlich ihrem Tempo an.
„Sind Sie heute geritten?“ fragte sie. Cornelia nickte.
„Ausnahmsweise. Was glaubst du, wie schwierig es ist, daß ich mal zwei Tage hintereinander kann. Eigentlich langt es nicht auf einmal. Wie geht‘s Petra? Hast du sie angerufen?“
„Nein, ich wollte. Aber ich hab’ mein. Geld zu Hause liegengelassen.“ Anja schwieg und gab sich dann einen Stoß. „Könnten Sie mir bitte drei Zehner borgen? Dann würde ich –“
Cornelia lachte. Sie blieb stehen, setzte die Tüte ab – ein paar Apfelsinen rollten heraus, Anja sprang hinterher und fing sie ein – und riß die Schultertasche auf.
„Da. Nicht geborgt, geschenkt. Ruf sie an und grüß von mir. Ich käme mal vorbei. Ich hab’ sowieso ein miserables Gewissen, daß ich noch nicht wieder dort war. Unser Peterlein, mußte ihr das passieren! Sie wollte so gern das Nikolausreiten mitmachen!“
„Danke!“ Anja nahm die zwei Groschen und schloß die Faust drum. „Vielen Dank. Ich grüß’ sie. Und Sie meinen, sie kann das nun nicht? Es ist doch aber noch lange bis zum Nikolaus!“
„Ja, aber vorher muß trainiert werden. Ein paar Wochen schon. Sie sollte das erstemal mitreiten.“ Cornelia wartete am Bordstein, bis die Straße frei war. „Ich muß fort, tschüs, wie gut, daß ich dich getroffen hab’!“
Sie lief rüber. Anja sah ihr nach.
Wie Cornelia müßte man einmal werden, so munter, so lebendig, so ansteckend fröhlich. Anja guckte ihr nach, winkte, als der rote VW losbrummte, und drehte dann eilig und eifrig um. Hoffentlich war niemand in der neuen Telefonzelle, so daß sie gleich hineinkonnte. Die kleinen Jungen lagen ja gottlob noch in ihrem Wagen, rausfallen würden sie bestimmt nicht. Anja langte am Telefonhäuschen an – es war leer – und schlüpfte hinein, nachdem sie die Bremse des Kinderwagens angezogen hatte. Durch das Ribbelglas hindurch konnte sie den Kinderwagen sehen, während sie wählte. Die Nummer wußte sie auswendig.
Sie bekam Petra sofort.
„Hier Petra Hartwig, guten Tag.“
„Hier ist Anja.
„Ach du, altes Monstrum! Wunderbar! Ich langweile mich zu Tode. Warst du im Reitverein? Was macht Wanda? Hat sie schon wieder jemanden ins Krankenhaus gebracht? Keinen? Wie schade. Und wie geht’s Othello? Cornelia hast du getroffen? Na, weißt du, du hast’s gut! Du kannst rumsausen, und ich muß hier auf dem Schmerzenslager ausharren.“ Sie lachte, man hörte es deutlich. Anja mußte auch lachen.
„Rumsausen. Hast du eine Ahnung. Meine Brüder muß ich ausfahren!“
„Das hab’ ich nicht gemußt. Meiner ist ja nur drei Jahre jünger als ich. Ein Ekel, immerzu kommt er mich ärgern. Sei froh, daß deine noch so klein sind.“
Wie eine Mühle ging ihr Mundwerk, wie eine Plappermühle. Anja wurde richtig vergnügt, ohne es zu merken.
„Natürlich bin ich bald wieder auf. Die zehn Tage – außerdem brauch’ ich keine Schularbeiten zu machen, und wenn ich jetzt klebenbleib’, schieb’ ich es darauf. Wunderbar, nicht? Ich wäre wahrscheinlich sowieso fällig gewesen. Dauernd schreiben sie jetzt Arbeiten …
Wann besuchst du mich? Morgen? Du weißt nicht, ob du wegkommst? Na hör mal, eine schwerkranke Freundin besuchen, die im Bett liegt, das muß man doch dürfen. Also du kommst, ich sag’ meiner Mutter Bescheid. Sie soll Obstsalat machen, magst du doch, oder? Na, ich auch.
Weißt du, du solltest in den Reitverein. Nein, nicht nur so, daß du kommst und hilfst, sondern richtig. Als Mitglied. Dann mußt du einfach von zu Hause wegkönnen, verstehst du.“ Anja war ganz atemlos, als sie endlich eingehängt hatte, weil draußen schon Leute klopften. Zwei Frauen standen vor dem Häuschen und sahen sie vorwurfsvoll an. So lange zu quatschen, unerhört!
Sie konnte doch nicht sagen, daß sie mit einer Kranken telefoniert hatte. Schnell faßte sie den Griff des Kinderwagens, wollte losschieben, hatte vergessen, die Bremse aufzumachen, und mühte sich vergeblich. Als sie dann endlich fort war, merkte sie, daß Volker seine Klapper nicht mehr in der Hand hielt. Sie fuhr zurück und hielt wieder an der Telefonzelle.
„Nein, noch mal gehst du nicht rein, jetzt komm’ ich erst dran“, sagte die Frau giftig, die vorhin die andere hatte vorlassen müssen.
„Ich will ja gar nicht“, sagte Anja und hob die Klapper auf, „nein, die darfst du jetzt nicht haben, du steckst sie in den Mund, und sie hat gerade hier auf der Straße gelegen.“ Sie wendete den Wagen und schob ihn im Eiltempo Richtung Heimat. Sie mußte die Klapper abwaschen.
„Ja, Anja, bist du schon wieder da? Aber es ist doch noch gar nicht fünf, nicht mal vier! Nein, das gibt es nicht, mir die Jungen schon wiederzubringen.“ Mutter sah sehr ärgerlich aus, als sie die Tür geöffnet hatte. „Nun sei vernünftig, und bleib noch draußen.“
„Ich will ja nur …“
„Nein, Schluß, keine Debatte.“ Mutter schlug die Tür nachdrücklich zu. „Ein einziges Mal …“ Anja stand einen Augenblick still, dann schmiß sie die Klapper wütend auf die Erde, ließ sie liegen und ging wieder los. Gut, dann mußte Volker eben ohne Klapper glücklich sein, und wenn er aus vollem Halse schrie. Mutter wollte es ja nicht anders …
„Na, was hat denn unser Goldtöchterchen? Läuschen übers Leberchen gelaufen?“ fragte Vater am Abendbrottisch. Anja hatte noch keinen Bissen gegessen; bei allem, was Mutter ihr zuschob, schüttelte sie stumm den Kopf.
„Keinen Hunger? Na, dann laß. Die meisten Menschen essen zuviel, zum Beispiel ich“ ‚sagte Vater friedlich und nahm sich ein Brot. „Aber du willst doch groß und stark werden. Ist dir nicht gut?“
„Ich hab’ noch Schularbeiten“, sagte Anja bockig. „Darf ich aufstehen? Ich hab’ den ganzen Nachmittag die Kleinen fahren müssen, da bin ich zu nichts gekommen.“
„Aber, Anja, du hast mir doch gesagt, du hättest alles in der Schule gemacht?“ sagte Mutter und sah sie verblüfft an. „Bestimmt hast du das gesagt. Ihr hättet eine Hohlstunde gehabt.“ Mutter erinnerte sich genau. Sie hatte den Ausdruck „Hohlstunde“ das erstemal gehört.
„Ja, schon. Aber nicht alles. Die Jungen aus meiner Klasse machen immer solchen Klamauk, weil kein Lehrer zur Aufsicht da ist. Da kann man nicht richtig lernen.“
Schweigen. Vater sah unauffällig von einer seiner zwei Frauen, der großen und der kleinen, zur anderen.
„Na, dann lauf. Wenn du nichts essen willst – komm, nimm dir wenigstens noch einen Apfel mit“, sagte er dann freundlich. Anja schnupfte und schüttelte den Kopf.
Später kam Vater in ihr Zimmer. Sie saß am Tisch, hatte die Bücher vor sich ausgebreitet, Arme und Kopf darauf gelegt und heulte. Er setzte sich sachte neben sie.
„Anja. Was gibt‘s denn? Wo steckt der Kummer?“
„Ich – ich will in den Reitverein“, stieß Anja hervor. Es klang ausgesprochen ungezogen, sie merkte es selbst. Aber manchmal kann man nicht anders … Sie war so wütend, sie kam sich schlecht und ungerecht behandelt vor und tat sich schrecklich leid. „Alle dürfen, und Petra sagt es auch, und –“ Sie glaubte jetzt selbst, was sie sagte. Vater antwortete nicht, er sah nachdenklich vor sich hin.
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