„Und nun: schön aufgerichtet sitzen, Schultern zurück, Beine lang. Fußspitzen anheben, Hacken runter, auch ohne Bügel. Ja, so. Ganz locker dabei – nun, das alles kommt mit der Zeit. Hier die Zügel. Sie müssen zwischen Ring- und kleinem Finger durchlaufen und zwischen Daumen und Zeigefinger – ja, du weißt es wohl schon. Hast gut aufgepaßt, wenn du bei der Reitstunde zugesehen hast. Fäuste aufrecht, Daumen wie kleine Dächer darüber. Fein. Und jetzt klopfst du ein wenig mit den Hacken, ein wenig nur – richtig. Das tut ihm nicht weh, das sagt ihm nur: ‚Los, jetzt wollen wir.‘ Na also, er versteht dich ja!“
Kerlchen hatte sich, sobald Anja mit den Fersen an seine Flanke kam, Richtung Stall gewandt und ging im Schritt los. Anja fühlte den warmen, mächtigen Körper unter sich in Bewegung kommen, sie drückte die Knie fest an und die Fersen nach unten, wie der Reitlehrer es oft und oft gesagt hatte. Mitsamt dem Zügel hatte sie ein Büschel Mähnenhaar erwischt, das gab ihr noch mehr das Gefühl, dem Pferd nahe zu sein.
„Nein, nicht schneller. Heute noch nicht. Heute reiten wir Schritt“, sagte Herr Anders, der nebenherging, ohne den Zügel anzufassen. „Schritt ist das erste und nicht das leichteste, das glaubt einem anfangs niemand. Und Stürze aus dem Schritt sind oft schlimmer als andere.“
Das konnte sich Anja nicht vorstellen. Ein Sturz bei einem Sprung, ein Hineinsegeln ins Hindernis, wie sie es schon mehrmals gesehen hatte, oder ein Aus-dem-Sattel-Kommen, wenn das Pferd bockelte, erschien ihr viel gefährlicher. Sie sagte aber nichts; das wußte sie schon von den Stunden, die sie miterlebt hatte: Widersprechen durfte man nicht, nie. „Morgen oder übermorgen traben wir dann ein Stückchen, heute noch nicht“, fuhr Herr Anders mit gleichmäßiger, freundlicher Stimme fort, „merkst du es – er weiß genau, was er tun soll, ja? Guter alter Knochen, wie viele Kinder hat er getragen, so wie dich jetzt, vorsichtig und voller Behutsamkeit. Er war auch eine Weile Voltigierpferd. Was Voltigieren ist, weißt du, oder? Da läuft das Pferd an einer Leine im Kreis, an der Longe, heißt das, und die Kinder machen Turnübungen daran, springen auf und ab und machen die Fahne und die Mühle –“
„Das hab’ ich mal bei unsern Nachbarn im Fernsehen gesehen, bei einem großen Reiterfest. Da waren auch ganz kleine Kinder dabei, höchstens fünf Jahre alt, vielleicht erst vier.“
Anja wurde ganz eifrig. Herr Anders merkte, wie sie sich entspannte, während sie erzählte. Das hatte er gewollt.
„Die Mädels hatten winzige Röckchen an und die Jungen grüne Hosen, manchmal waren zwei auf dem Pferd und hielten sich aneinander fest, manchmal sogar drei, und eins hing mit dem Kopf nach unten.“
„Kosakenhang heißt das“, ergänzte Herr Anders.
„Und zuletzt machten sie eine Pyramide am Pferd, drei saßen drauf, und zwei standen, und rechts und links machte eins Handstand am Pferdehals ... ich möchte auch voltigieren lernen – oder bin ich schon zu groß dazu?“
„Aber woher denn! Es gibt auch Voltigiergruppen aus Erwachsenen – freilich ist es gut, wenn man früh damit anfängt, genau wie beim Reiten.“
„Gibt es das hier im Reitverein?“ fragte Anja dringend. „Hier bei Ihnen?“
„Doch, ja, von Zeit zu Zeit machen wir Kurse. Und da mitzutun ist nicht so teuer wie Reitstunden, weil eben viele Kinder miteinander üben, an einem Pferd. Mindestens sechs sollten es sein, damit jedes nach seiner Übung verpusten kann. Beim Voltigieren kommt man nämlich sehr schnell außer Atem, das kann ich dir sagen! Vielleicht kannst du schon beim nächsten Kurs mitmachen?“
„Oh, das wäre schön! Nur – wissen Sie – meine Eltern! Meine Mutter ... ja, also, gern sieht sie es nicht, wenn ich zu Ihnen gehe. Sie war ja auch noch nie mit und hat sich nicht angesehen, wie es bei Ihnen ist.“
„Die meisten Eltern sehen es nicht so gern, wenn sie ihre Kinder dann für ganze Nachmittage los sind. Und die Schularbeiten liegen da und werden nicht gemacht, und geholfen wird nicht, während man im Reitverein gern hilft.“ Herr Anders lachte leise. „Aber das gibt sich. Und wenn man so schön nahe wohnt wie du ... du wohnst doch da drüben, gegenüber dem Einkaufsladen? Na siehst du. Und schon sind wir angekommen.“ Sie standen vor dem Stall.
„Schade“, sagte Anja und seufzte aus Herzensgrund. „Schade – aber es war schön – ach, herrlich! Darf ich wieder mal?“
„Natürlich darfst du. Komm – aha, da brauch’ ich gar nicht zu helfen. Du kommst allein runter.“ Anja hatte sich seitlich hinabgleiten lassen und stand jetzt wieder an Kerlchens Kopf, glühend vor Aufregung und Glück.
„Danke, Kerlchen, das war schön! Morgen bring’ ich dir wieder Mohrrüben – oder hartes Brot. Ist doch besser als Zucker, nicht wahr, Herr Anders?“
„Viel besser. Zucker nur in ganz kleinen Mengen, als große Belohnung. Im Zoo ist mal ein Elefant an Würfelzucker gestorben, weil ihn die Leute so sinnlos fütterten. Zucker übersäuert den Magen, so komisch das klingt. Und nie Schokolade geben, verstehst du? Ach, was die Leute manchmal Unsinniges füttern.“
Ich bin geritten, ich bin geritten, ich bin geritten, sang es in Anjas Herz. Ich bin auf Kerlchen geritten, ganz allein. Er hat den Zügel nicht angefaßt, ist nur nebenhergegangen, der Herr Anders. Ich bin allein geritten ...
Sie rannte heim. Wenn sie ganz schnell wieder zu Hause war, würde Mutter vielleicht nichts merken. Sie mußte nur ins Haus hineinkommen, ohne zu läuten – einfach durch den Keller. Und dann so tun, als wäre sie die ganze Zeit zu Hause gewesen, hätte Schularbeiten gemacht oder ...
Und sie konnte Mutter ja auch helfen, von sich aus. Fragen: „Was kann ich tun, Mutter? Soll ich einkaufen gehen? Brauchst du noch was?“ Meist brauchte Mutter noch was, auch wenn sie schon Besorgungen gemacht hatte.
Alles ging gut. Anja schlich durch den Keller, stand mit klopfendem Herzen auf der obersten Stufe der Treppe, huschte durch den Flur in ihr Zimmer. Gerettet! Und jetzt zu Atem kommen, und dann ganz harmlos hinübergehen, so, als wäre man überhaupt nicht draußen gewesen ...
Ich bin geritten! Wie einen kostbaren Schatz trug sie dieses Wissen in sich, einen Schatz, den sie nie verlieren konnte. Ich bin geritten, vielleicht reite ich morgen wieder. Oh, Reiten, das Schönste auf der Welt! Sie hätte am liebsten die ganze Welt umarmt.
„Was glaubt ihr – es schneit!“
Vater stand in der Tür, noch im Mantel, der wahrhaftig an den Schultern weiß gepudert war. Anja fühlte ihr Herz hüpfen. Jedes Kind freut sich über den ersten Schnee. Gleichzeitig aber fuhr es ihr wie ein Stich hindurch: Schnee! Dann konnte Kerlchen vielleicht nicht mehr auf die Weide?
Vielleicht doch. Vielleicht blieb der Schnee nicht liegen – aber es wäre andererseits eben wunderbar, wenn er liegenbliebe. In den letzten Jahren hatte es doch so wenig geschneit ...
„Oh, da werden sich die kleinen Jungen aber freuen!“ sagte Mutter sofort.
„Und die große Anja erst recht“, schmunzelte Vater und sah zu seiner Tochter hin. Mutter lachte.
„Na klar! Das sowieso. Aber für die Jungen ist es doch etwas Neues! Und wir kaufen einen Rodelschlitten mit Lehne, da packen wir Volker und Reinhold hinein, mit Kissen und Wärmflaschen, und Anja kann sie ausfahren, das macht viel mehr Spaß als mit dem Kinderwagen. So einen Schlitten hatte ich auch für dich, als du klein warst.“
„Ja, aber den Schlitten schaffen wir gleich an, nicht erst zu Weihnachten!“ sagte Vater und hängte seinen Mantel in den Flur. „Nicht mal bis zum Nikolaus warten wir! Wenn Schnee kommt, muß man ihn nützen. Wie lange ist es denn noch bis zum Nikolaus?“
„Drei Wochen und zwei Tage“, kam es blitzschnell von Anja. Er streifte sie mit einem Blick. Dann sagte er lachend: „Schnell und genau. Antwortest du in der Schule auch immer so? Dann wünschte ich, ich hätte dich in meiner Klasse.“
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