Anja schwieg. Sie wußte, warum sie so genau hatte Bescheid geben können – sie dachte an das Nikolausreiten! Immerzu dachte sie daran, ob Petra bis dahin so weit gesund wäre, daß sie mitreiten könnte. Und ob Cornelia den Flieder bekam, den sie sich so heiß wünschte, und ob die Familie Hartwig ihren dickköpfigen Kronprinzen dazu bringen würde, mitzureiten.
Was hieß in diesem Falle reiten! Anja kannte das Festprogramm auswendig. Da war der erste Punkt: Vorstellen aller Pferde, Besitzer- und Vereinspferde. Und dabei sollte Petra die Rumpel haben, Angelika die Lady und Werner den Kerlchen. Die dritte Schwester war für Wanda vorgesehen, die bei solchen Gelegenheiten, wo viele Pferde mitgingen und es etwas eng würde, sehr grätig werden konnte, aber Martina traute sich zu, mit ihr fertig zu werden. Das Nikolausreiten – Anja zählte die Tage bis dahin, und deshalb hatte sie Vater so präzise antworten können.
Am nächsten Nachmittag lief sie gleich zur Wiese. Es hatte die ganze Nacht über geschneit, und die Siedlung sah ganz anders aus als vorher, wie aus einem Bilderbuch. Anja hatte den alten Lodenmantel angezogen und die Taschen vollgestopft mit Brotstückchen, die hart geworden waren; immerzu Möhren stibitzen konnte man ja auch nicht. Viel Hoffnung, Kerlchen zu treffen, hatte sie nicht, aber ...
Doch, da stand er! Herr Anders hatte ihn also doch herausgelassen, wahrscheinlich, damit er recht viel gute Luft bekam. Am Rand der Koppel war jetzt eine kleine überdachte Raufe auf gestellt. Anja sah sie zum erstenmal. Wie eine Wildfütterung, nur etwas höher – Kerlchen hatte das Heu, das darin gewesen sein mochte, gewissenhaft bis zum letzten Halm verzehrt, aber diese Raufe gab Anja die Hoffnung, daß er auch später noch bei Schnee hier sein würde.
„Hurra, mein Kerlchen!“
Sie schwang sich über den Koppelzaun und lief zu ihm hin, glücklich, erleichtert. Und wirklich, er drehte sich, als sie ihn anrief, sah ihr entgegen und kam dann sogar ein paar Schritte auf sie zu. Beglückt nahm sie ihn um den Hals.
„Alter guter Knochen“, so sagte Herr Anders immer. Das Pferd stand still bei ihren Zärtlichkeiten, bog dann den Hals und schnupperte an ihrer Manteltasche. Und plötzlich – raaaz – hatte es sie aufgerissen, indem es seine dicke Nase hineinversenkte.
„Kerlchen, du Grobian!“ Anja lachte zärtlich. „Die Tasche muß ich aber wieder annähen, sonst merkt Mutter, daß ich bei dir war. Was, in die andere willst du auch noch hinein mit deinem gierigen Maul ...“
Später, als Herr Anders kam, erzählte sie es ihm und zeigte ihm die halb abgerissene Tasche. Herr Anders lachte still in sich hinein.
„Das ist seine Art. Immer muß er in alle Taschen hinein, am liebsten mit dem ganzen Kopf. Wie viele Taschen hat er schon auf gerissen! Wir sagen nichts, wenn neue Leute in den Reitverein kommen; früher oder später macht er das bei allen. Willst du ihn wieder reiten?“
Und ob sie wollte! So eine Frage! Strahlend saß sie auf, und strahlend ritt sie die kurze Strecke bis zum Stall, rutschte dort hinunter und gab Kerlchen zum Dank das letzte aufgesparte Stück Brot und einen Kuß auf die Nase.
„Lieber, lieber Kerlchen!“
Heute hatte Mutter nicht gesagt: „Diesmal ist es nichts mit dem Reitverein.“ So konnte sie am Abend – sie brachte es nicht fertig, es bei sich zu behalten – den Eltern erzählen, daß sie geritten sei. Mutter sah sie an und schüttelte ein wenig den Kopf, aber sie sagte doch: „Na, das ist aber fein!“, und Vater gratulierte ihr feierlich. „Vielleicht wirst du mal Olympiasiegerin!“ sagte er und verbeugte sich. Bei ihm war solch ein Spaß nie kränkend, sondern nur lustig.
Abends konnte Anja nicht einschlafen. Hätte sie doch nicht davon erzählen sollen? War es dumm gewesen? Vater würde sicherlich nichts dagegen haben, wenn sie in den Reitverein ging – oder doch wenigstens einen Voltigierkursus mitmachte. Aber Mutter.
Sie hatte solchen Durst; so stand sie noch einmal auf. Barfuß tastete sie sich durch den Flur, der Küche zu. Die Eltern saßen im Wohnzimmer, von dem aus eine Durchreiche – Vater nannte sie „Freßloch“ – wie ein Fensterchen in die Küche führte, durch die man Teller und Tassen, Kaffeekanne und Suppenterrine hindurchgeben konnte. Diese Durchreiche stand halb offen, so daß Anja in der Küche kein Licht zu machen brauchte. Das war gut. Mutter konnte es nämlich gar nicht leiden, wenn man aus dem Bett noch einmal zurückkam, um etwas zu holen. Sie hatte das früher, als sie noch klein und allein mit Mutter war, manchen Abend fünf- bis zehnmal getan, und Mutter nannte es das „Wiedergehen“. Jetzt, da Anja größer war und nur bei wirklichen Anlässen noch einmal zurückkam, schalt sie nicht mehr so. Aber Anja ging dann unwillkürlich sehr leise, auch heute. Sie schlich zum Küchenschrank, nahm ein Glas heraus und füllte es lautlos am Wasserhahn. Dabei hörte sie etwas.
„Ach ja, der Reitverein, der Reitverein, der Reitverein, Beim Aufwachen, beim Einschlafen, den ganzen Tag über. Es würde mich nicht wundern, wenn sie in der Schule, nach irgendeiner Vokabel gefragt, ‚der Reitverein‘ antwortete. Sie ist wie verhext.“
„Na, so ein Unglück ist das ja nicht.“ Vater brummte vor sich hin, schien die Zeitung zu lesen. Anja verstand ihn aber doch. Sie stand da und hielt den Atem an. Wenn er jetzt doch sagte: Dann schicken wir sie doch in den Reitverein.
Nein, er sagte es nicht. Er sagte etwas anderes.
„Ich meine, wenn sie dorthin läuft, wissen wir wenigstens, wo sie steckt. Wir bekamen nämlich heute in der Schule einen Hinweis, wir Lehrer nur – ja, es soll zunächst nicht veröffentlicht werden, weil der Betreffende dann selbst gewarnt würde –, es ist, kurz und schlecht, wieder mal einer von diesen schrecklichen Gesellen in der Stadt, die Kinder an sich locken und mitnehmen. Nun, nun, mach nicht so ein verstörtes Gesicht. Etwas Ernstliches ist noch nicht passiert, er ist zweimal beobachtet und gestört worden – das heißt, das Kind ist im letzten Augenblick ausgerückt, wer aber weiß, wie es das nächste Mal ausgeht. Das ist ja wie eine Krankheit bei diesen Leuten, sie können nichts dafür, trotzdem ist es eine große Gefahr. Die Polizei ist verständigt, sie haben ihn auch ums Haar erwischt, er entkam dann aber doch. Vielleicht verläßt er die Stadt ja auch, wenn er merkt, daß man aufpaßt.“ Vater hatte gesehen, wie entsetzt Mutter schaute.
„Da darf Anja nie mehr allein –“
„Aber Erika“, sagte Vater begütigend, „wir können sie doch nicht festbinden. Warnen müssen wir sie, und das tu’ ich morgen auch, und zwar eindringlich. Sie aber deshalb zu Stubenarrest zu verdonnern, dafür bin ich nicht. Dieser Mann ist übrigens ziemlich leicht zu erkennen, soll eine Narbe auf der linken Wange haben, die man gut erkennt. Wenn man den Kindern das sagt, so ist damit schon viel gewonnen. Außerdem waren es beide Male kleine Jungen, die er versuchte mitzulocken, keine Mädchen.“
„Ach, heutzutage, wo alle in Hosen rumlaufen und die gleichen langen oder kurzen Haare tragen ...“ Mutters Stimme hörte man an, daß sie ganz außer sich war vor Sorge. „Nein, nein, Anja muß jetzt immer sagen, wohin sie geht, und pünktlich wieder zu Hause sein. Ich gebe ihr von morgen an meine Armbanduhr, sie hat sich mal eine gewünscht, die dann aber sehr bald verloren. Für mich reicht die Küchenuhr, die sehe ich ja immer. Sie bekommt meine!“
Anja hatte das Glas leer getrunken, ohne es zu merken. Sie stellte es lautlos weg, schlich rückwärts zur Tür. Wenn sie ihr jetzt verboten, zu Kerlchen zu gehen – sie würde es heimlich tun. Sie würde, würde – aber eine eigene Uhr zu haben wäre gut. Im Reitstall hing keine, nur in der Halle die große. Es würde gut sein, immer zu wissen, wie spät es ist, man konnte sich dann zu Hause zeigen und wieder entwischen ...
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