Trotzdem lag Anja noch lange wach. Ob es auch so schreckliche Männer gab, die Pferde stahlen? Dann mußte sie erst recht auf Kerlchen aufpassen, wenn er auf der Weide stand. Nein, zu Hause bleiben und überhaupt nicht mehr wegdürfen, auch nicht zum Helfen, das gab es nicht. Da machte sie nicht mit. Außerdem – mit fremden Männern ging sie sowieso nicht, das hatte Mutter ihr schon immer gesagt, so dumm war sie nicht. Mutter dachte ja immer, man wäre noch ein Baby, vollkommen kindisch und blöd ...
Geritten war sie, das zweite Mal schon, und morgen würde sie wieder reiten. Morgen und übermorgen und jeden Tag. Wenn Herr Anders es ihr von sich aus erlaubt, ja, angeboten hatte, so würde er das bestimmt wieder tun. Wenn doch alle so wären wie Herr Anders – Anja seufzte wehmütig und drehte sich auf die andere Seite. Ob Kerlchen schon schlief? Und dann sah sie ihn über die weiße, verschneite Koppel auf sich zukommen, vertraut und lieb, und mit der Nase ihre Manteltasche durchsuchen –
„Die muß ich ja noch annähen“, dachte Anja noch und lachte ein bißchen – gleich darauf war sie fest eingeschlafen.
Eine Taufe, und was man dabei erleben kann
Das Innere der Kirche war hell, weiß und glatt, ohne Schmuck, nur neben dem Altar stand eine schöne barocke Figur. Und auf der anderen Seite lag der Adventskranz auf einem weißen Steinsockel; eine seiner dicken Kerzen brannte. Anja blickte die ganze Zeit in dieses am hellen Vormittag fast unwirklich scheinende Licht und hörte nur mit halbem Ohr auf das, was der Pfarrer sagte. Vater und Mutter hatten je einen der Zwillinge auf dem Schoß, sie wiegten sie ein wenig hin und her und versuchten sie zu beruhigen und zu beschwichtigen, wenn sie mauzen wollten. Schließlich durften sie aufstehen und an den Taufstein treten. Anja stand auch auf und folgte ihnen. Außer ihr waren noch zwei Paten da, Vaters jüngerer Bruder Kurt für Volker und Mutters Kusine für Reinhold. Mutter hatte keine Geschwister.
Jetzt setzte die Orgel ein, rauschend, gewaltig. Die Erwachsenen sangen mit, Anja kannte das Lied nicht, aber sie fand es schön. Zum Schluß kam dann noch eins, das sie konnte und mitsang, sogar die Melodie, die sie so liebte. Es war ein Adventschoral.
Es war ja Advent, erster Advent, und draußen immer noch Schnee. Ob der bis Weihnachten blieb? Das wäre etwas ganz Besonderes! Vielleicht konnte sie sich zu Weihnachten wünschen, daß sie in den Reitverein dürfte, richtig als Mitglied, zum Reitenlernen? Das war teuer, sie hatte es von verschiedenen Seiten gehört. Wenn sie sich nichts, aber auch gar nichts anderes wünschte, nur das?
„Na, du guckst ja so verträumt – wo warst du denn mit deinen Gedanken?“ fragte die junge Tante munter, als der Taufakt vorbei war und sie der Kirchentür zugingen. „War es nicht schön? Ich wünsche mir auch Zwillinge, und die taufe ich dann auch zu Advent, und dann bist du Patin, so wie ich jetzt bei deinem Brüderchen. Wirst du ja sagen?“
„Wenn man sich Zwillinge eben mal einfach so bestellen kann ...“
„Leider nicht. Und ich habe noch nicht einmal einen Mann, also kannst du dir’s noch überlegen“, sagte Tante Sabine und nahm Mutter das Baby ab. „Aber einen Patensohn hab’ ich nun wenigstens, und um den werde ich mich kümmern, das könnt ihr glauben! Ich hab’ mich so gefreut, daß ihr mich für dieses Ehrenamt erwählt habt! Und auf den Besuch bei euch und auf die Taufe und alles.“
Anja hatte sich auf die Taufe überhaupt nicht gefreut. Immerzu: Das müssen wir zur Taufe haben und jenes – und wenn erst Taufe ist – und: aber zur Taufe ... Auch jetzt fand sie es nicht überwältigend. Die Feier war schön in dem hellen Gotteshaus, und daß erster Advent war, freute sie auch, aber den ganzen Nachmittag nur mit Erwachsenen Zusammensein zu müssen und zu helfen und zu laufen und zu springen, um die anderen zu bedienen, das war keine wunderbare Aussicht. Um so mehr leuchtete ihr Gesicht auf, als sie, aus der Kirche heraustretend, Petra sah. Petra! Sie stand auf der obersten Stufe der Kirchentreppe und hielt einen riesigen Rosenstrauß in den Händen.
„Für Sie – und für Ihre beiden Jungen – und Mutter läßt grüßen und einen wunderschönen Tag wünschen –“
Anjas Mutter sah sie gerührt an.
„Du bist Petra, nicht wahr? Von der Anja immer erzählt. Woher wußtest du denn –“
„Ihr Mann hat mich eingeladen“, berichtete Petra sprudelnd vor Eifer, „er sagte, für Anja wäre es vielleicht ein bißchen langweilig, wenn nur große Leute da sind. Darf ich den Täufling mal halten? Ich kann es bestimmt, ich lass’ ihn nicht fallen. Früher dachte ich immer, Täufling kommt von Teufel.“
„Ich auch“, sagte Mutter lachend und übergab ihr das Bündel, vorsichtig, aber ohne Besorgnis. „Du läßt ihn schon nicht fallen, da bin ich ganz sicher. Das war aber lieb von Vater, dich einzuladen –“ Sie blickte Anja auffordernd an. ‚Na los, nun sag schon‘ hieß dieser Blick.
„Ja. Danke, Vater“, sagte Anja nach einem Augenblick Zögern. Doch, es war lieb von Vater und nett ausgedacht, nur –
„Ich hab’ schon gehört, wie hübsch ihr wohnt, ihr seid ja erst hergezogen“, schwatzte Petra und trug den kleinen Jungen vor sich her, immer wieder in sein Gesicht hineinlachend. „So nahe am Reitverein–ja, wer das Glück hätte! Aber bei euch drin war ich noch nie!“
„Komm, Anja, nimm den anderen“, flüsterte Vater und legte ihr den kleinen Bruder auf den Arm. „Das ist hübsch anzusehen, wie ihr da an ihnen schleppt, das muß ich festhalten fürs Familienalbum. Ich hab’ den Foto da.“
Er machte nicht nur ein Bild. Der Schnee und die Sonne, die schöne Kirche im Hintergrund – alles bot sich geradezu an, geknipst zu werden, und auch Mutter und die Paten mußten immer wieder stillhalten, mit und ohne Täuflinge. Erst nach einer Weile setzte sich der kleine Zug endgültig in Bewegung, Richtung nach Hause, wo schon der gedeckte Tisch wartete.
„Wir trinken gleich Kaffee, wir feiern eine Kaffeetaufe“, erklärte Mutter, „so hab’ ich es auch bei Anja gehalten. Nach der Kirche einen tüchtigen Kaffee und dazu Kuchen und abends dann etwas Warmes. Ich hab’ ja jetzt so viele und tüchtige Helfer!“
Anja sah ein wenig geniert zu Petra hin. Die war ja nun wahrhaftig nicht zum Helfen eingeladen worden! Aber sie schien geradezu mit auf gekrempelten Ärmeln hergekommen zu sein, sie fragte sofort von sich aus, ob sie Kaffee holen oder Sahne schlagen oder Kuchen aufschneiden dürfte, und war entzückt von der Durchreiche.
„Nein, so was Schönes haben wir in unserem ganzen Haus nicht! Da kann man ja durchkriechen – also ich käme durch, bestimmt! Und jemandem, der im anderen Zimmer ist, einen Ball an den Kopf werfen und sich dann ducken, damit er sich wundert, oder Kasperle spielen. Ja, Kasperle! Das machen wir später, wenn die Jungen größer sind und es schon kapieren, wollen wir, Anja? Ich hab’ Kasperpuppen zu Hause, die bring’ ich mit!“
„Wunderbar. Da ladet ihr mich aber dazu ein, das möchte ich miterleben“, sagte die junge Tante. „Hier, nimm bitte den Kuchen.“ Sie stand in der Küche und reichte Petra eine Platte nach der anderen durch. „Bist du zu Hause auch so patent und brauchbar?“
„Nein. Ein Faultier, wie es im Buche steht“, gestand Petra vergnügt. „Meine Mutter ärgert sich grün und gelb über mich. Aber hier gefällt es mir eben.“
„So ist es wohl immer. Woanders sind die Kinder hilfsbereit und tüchtig, und zu Hause lassen sie sich jeden Handgriff abkaufen“, dachte Mutter, die dieses Gespräch zufällig mitbekommen hatte, „vielleicht benimmt sich Anja bei Hartwigs auch aufmerksam und gefällig. Hoffentlich ...“
Sie tat es übrigens auch heute und hier. Angesteckt von Petra, lief sie hin und her und brauchte überhaupt nicht erst aufmerksam gemacht zu werden, wenn etwas fehlte, sondern wetteiferte mit der jungen Tante und Petra darin, tüchtig zu sein. Mutter konnte nur staunend den Kopf schütteln, aber sie lachte dabei.
Читать дальше