Da öffnete sich die Tür, und ein Junge, etwas kleiner als Anja, erschien im Zimmer. Er sah Petra ziemlich ähnlich, hatte dasselbe emporstrudelnde Haar über der Stirn und braune Augen. Er begrüßte die Anwesenden mit einem flauen „Tag!“ und setzte sich an den Teewagen, um sich dort, stumm und ohne Pause, voll frischer Brötchen zu stopfen, bis seine Mutter „Schluß!“ sagte und den Wagen aus seiner Reichweite schob. Petra sah Werner entrüstet an.
„Du kannst auch nichts als futtern“, sagte sie und machte ein Gesicht wie Anjas Lateinlehrerin, „einmal wirst du platzen. Lieber solltest du reiten, du Angsthase!“
„Hab’ keine Angst. Hab’ bloß keine Lust“, nuschelte Werner, den Mund noch voller Brötchen, „wenn man von früh bis abends nichts anderes hört als reiten und reiten und reiten –“ Er stand auf und verließ den Raum, und man sah ihm von hinten an, was er für ein Gesicht machte.
„Ihr sollt ihn in Ruhe lassen. Er kommt schon von selbst auf den Geschmack“, sagte Petras Mutter und lächelte ein wenig betrübt. „Mein Kummer ist es ja auch, daß er nicht aufs Pferd will. Und mein Mann bedauert es ebenso.“
„Wie alt ist er denn?“ fragte Cornelia.
„Neun. Da kann es ja noch kommen.“
„Ich hab’ von klein auf vom Reiten geträumt. Aber erst als Studentin bekam ich Gelegenheit dazu. Und Sie, Sie reiten auch? Ich hab’ Sie noch nie im Verein getroffen.“
„Wir reiten immer früh, mein Mann und ich. Mein Mann ist von der Firma sehr eingespannt, da geht es nicht anders als morgens um sechs. Sie kennen unsere Pferde sicher, oder? Ja, sie stehen im Vereinsstall, rechts vorn, in Laufboxen. Lady und Rumpel, die Namen passen wahrhaftig nicht zueinander, aber wäre Rumpel männlichen Geschlechts, so hätten wir sie wahrscheinlich in Lord umgetauft. Aber es sind zwei Stuten.“
Sie mündeten in ein Gespräch über Pferde, bei dem Anja und Petra schweigend und aufmerksam zuhörten. Petras Mutter hatte früher Remonten zugeritten, verstand also wirklich etwas vom Thema. Kein Wunder, daß die Töchter so passioniert waren.
Als Anja heimradelte, war sie tief in Gedanken. So eine Mutter müßte man haben! So ein Zuhause. Sie hatte sich gut umgesehen: Überall hingen Pferdebilder, überall standen Pferdebücher. Ein Schrank stand voller Preise – Pokale, Teller aus Silber, eingravierte Daten. Der Garten, der ums Haus lag, war geradezu ein Park. Und Frau Hartwig! Schön und schlank gewachsen und gepflegt, und trotzdem nicht „feun“, wie Anja Leute nannte, die sich Schmuck umhingen und nirgends hinfassen mochten, wo sie sich vielleicht ein wenig schmutzig machen konnten. Ja, wenn Mütter reiten ... Anja dachte an ihre eigene, die rotbackig und rundlich war, den ganzen Tag mit Wickelschürzen herumlief, mit weißen, wenn sie die Jungen versorgte, sonst mit bunten, hübsch und appetitlich, das schon, aber ...
Die sich gar nicht dafür interessierte, wenn man von Pferden erzählen wollte, die verstrubbelte Haare hatte und sich einfach ein Kopftuch darüberknüpfte, weil sie es selbst nicht mehr mit ansehen konnte ...
Freilich, keiner will seine Mutter tauschen. Aber ein bißchen ändern könnte sich ihre Mutter schon, dachte Anja rebellisch, nicht nur das Muttertier für die beiden kleinen Jungen sein, die sie von morgens bis abends versorgte, fütterte, badete, schlafen legte oder herausnahm – etwas anderes tat sie eigentlich nicht mehr, so schien es Anja. Die beiden Kerlchen waren süß, zugegeben, aber es gab ja auch noch andere Dinge auf der Welt.
Und Werner, dieser Dummkopf! Könnte dreimal die Woche reiten – Petra ritt dreimal, wenn es mit der Schule einigermaßen paßte – und mochte nicht! So dumm, so unverständlich dumm! Wenn sie an seiner Stelle wäre, sie wüßte, was sie täte! Sogar eigene Pferde hatten Hartwigs, und –
„Na, Anja, du kommst ja so verträumt daher, daß du nicht mal deinen Vater erkennst!“ hörte sie es sagen – sie war eben in ihre Straße eingebogen.
„Ach, Vater, du! Ich war bei Petra, weißt du, die aus dem Reitverein, die die Gehirnerschütterung hat. Ja, es geht ihr gut, nur auf stehen darf sie noch nicht.“
„Hauptsache, es ist nichts Schlimmes. Komm, ich trag’ dir das Rad in den Keller – lauf zu Mutter, sie ruft.“
Anja hatte es schon gehört.
„Anja – endlich! Ich hab’ den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Wo warst du denn wieder, natürlich im Reitverein, oder?“
„Nein. Ich soll ja nicht.“ Anjas Stimme klang jetzt anders als vorhin, da sie mit Vater gesprochen hatte. Wütend, verbockt ...
Es wurde kein schönes Heimkommen.
„Mit Anja ist wirklich nichts anzufangen, ich komm’ mit ihr in letzter Zeit überhaupt nicht zurecht“, klagte Mutter am Abend. „Den ganzen Nachmittag läßt man sie laufen, wohin sie will, und wenn sie dann endlich kommt, ist sie bockig und unfreundlich.“
„Zu mir war sie freundlich. Sie hat eine Freundin besucht, die im Bett liegt“, sagte Vater vorsichtig. „Daß es eine aus dem Reitverein ist, sag’ ich jetzt besser nicht“, dachte er und schwieg. Aber es nützte nichts.
„Ja, Petra wahrscheinlich. Es ist ja nett von ihr, sich um sie zu kümmern, aber den ganzen geschlagenen Nachmittag dort zu hocken, ohne daß sie vorher sagt, wohin sie geht ... ich habe mich gesorgt! Ach ja, mit ihr ist es zur Zeit wirklich schwierig.“
Vater schwieg. Er mochte seine neue Tochter ausgesprochen gern, wünschte sich sehr, ein gutes Verhältnis zu ihr zu bekommen. Das aber mußte man behutsam anfangen. Und daß seine Frau so gar kein gutes Haar an dem Kind ließ, machte ihn doch nachdenklich.
So, wie sie es sagte, war es sicherlich auch nicht. Aber Anja wurde meistens sofort unzugänglich und patzig, wenn Mutter etwas von ihr wollte. Mit Vorwürfen aber änderte man da nichts.
Er unterrichtete Kinder im Alter von Anja, und da erlebte er oft, sehr oft, daß Mütter kamen und behaupteten, mit ihren Töchtern wäre überhaupt nicht auszukommen; er aber fand in der Schule, daß es nette und aufgeschlossene und gescheite Schülerinnen waren.
„Abwarten“, sagte er. Aber abwarten ist nicht so leicht, wenn man das Temperament von Anjas Mutter besaß ...
„Holen Sie ihn schon?“ fragte Anja. Es klang enttäuscht. Sie hatte sich soeben, später als sonst, von zu Hause wegstehlen können und war diese Sekunde erst bei Kerlchen angekommen, der am Zaun der Koppel stand und wahrhaftig nach ihr Ausschau gehalten hatte. Jedenfalls guckte er in die Richtung, aus der sie kam – und nun war Herr Anders von der anderen Seite her gekommen und wollte ihn holen. „Heute gehst du mal nicht in den Reitverein“, hatte Mutter gesagt. „Es muß auch mal ohne gehen.“
Hier auf der Koppel zu stehen und Kerlchen zu streicheln, das war nicht „in den Reitverein gehen“. Sie sah zu Herrn Anders auf. „Aber die Möhre darf er doch noch fressen, so eilig ist es nicht, nein?“
„Nein. So eilig nicht. Ich hab’ Zeit. – Du, Anja?“
Ja?“
„Wie wäre es – willst du ihn mal versuchen?“
„Kerlchen? Ihn reiten? Im Ernst?“ Anjas Augen waren ganz groß und rund geworden. „Darf ich wirklich? Darf er denn geritten werden?“
„Bis zum Stall gewiß. Ich hab’ das Reithalfter mitgebracht“, sagte Herr Anders. Er wartete, bis Kerlchen die Möhre verschnorpst hatte, und streifte ihm dann das Kopfstück über. Vorsichtig schob er das Gebiß ins Pferdemaul, schloß die Schnalle des Kinnriemens und dann die Schnallen am Kehlriemen. „Siehst du, so macht man das. Hier muß es eng anliegen, und hier muß eine Faust dazwischenpassen. Probier mal. Ja, so. Und nun –“
Anja stand schon links neben dem Pferd bereit, das eine Bein angewinkelt, wie Herr Anders es ihr damals gesagt hatte. Er legte die Hand darunter – schon war sie oben.
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