Es wird einige Leute geben, die sich über seine Verwandlung wundern werden. Das darf ich eigentlich auf keinen Fall verpassen. Außerdem will ich Goliath noch fragen, ob er mein Fahrrad reparieren kann.
Du drängst dich an mir vorbei. Ich spüre deine spitzen Ellbogen in meiner Seite .
Immer musst du dich vordrängeln .
Du stiehlst. Und du merkst es nicht einmal. Oder freust du dich über deine Beute?
Wenn du dir nimmst, was mir gehört?
Ich kann kaum atmen, wenn ich dich sehe. Aber du bemerkst das natürlich nicht .
Dreht sich irgendetwas in deinem Kopf mal nicht um dich? Na klar, ich bin ja auch unsichtbar. Wie kann ich auch erwarten, dass du etwas mitbekommst davon, was in anderen Leuten vor sich geht!
Webhexe, Blogeintrag vom 19. August
Daniel ist gar nicht da.
Mist. Jetzt habe ich mich extra aufgerafft und bin ins Gemeindehaus gestiefelt und es sind sowieso nur dieselben da wie immer. Die Verteilung der Gruppenmitglieder ist ziemlich genauso wie in meiner Klasse. Es gibt ein paar Außenseiter, merkwürdige Gestalten, die kaum ein Wort herausbringen, und auch eine kleine Gänseschar – perfekt gestylt, für den Fall, hier den Partner fürs Leben zu treffen. Die Gänse sind diejenigen, die sich immer hervortun wollen. Sie wissen alles und sie kennen sämtliche Lieder auswendig und sie können stundenlang darüber diskutieren, ob es einen Unterschied macht, wenn man beim Singen die Hände in die Luft streckt oder nicht. Hier in der Kirche bedeutet »Gans sein« nicht bloß, wunderschön sein zu wollen. Es bedeutet, perfekt zu tun. Ganz zu sein. Und nie, nie, niemals irgendwie zerrissen zu wirken. Tine ist in unserer Kirche die Obergans. Die Superfromme. Sie ist über alles und jedes schockiert und man kann sie herrlich nachahmen. Sie erinnert mich an meine Schwester Tabita, die ja auch immer alles besser weiß.
Dann sind da noch die »Normalen«. Natürlich sind die Normalen, die in die Kirche gehen und am Donnerstag Abend eine Jugendgruppe besuchen, die auf den inspirierenden Namen Life and Hope hört, nicht so normal wie die Normalen an der Schule. Das wunderbar Normale an ihnen ist, dass sie nicht so recht wissen, was sie hier wollen und warum sie eigentlich hergekommen sind. Außer um Spaß zu haben, natürlich.
Das Gänseleben ist mir vertraut. Ganz ehrlich. Ich kenne alle Bibelstellen auswendig und mit diesen Liedern bin ich groß geworden. Ich weiß alles und kann alles und ich lasse mir nicht anmerken, dass mich das alles nicht die Bohne interessiert.
So sind Gänse nun mal. Außen alles voller schöner weißer Federn.
Ich könnte mich auch zu den Normalos zählen, denn so wie die weiß ich nicht, warum ich hier bin. Was würde passieren, wenn ich anfange, meine Fragen zu stellen? Zu sagen, was ich wirklich denke? Würde der gutmütige, immer freundliche Riese Goliath mich dann vor die Tür setzen?
Doch ich bilde hier meine eigene Gruppe: »Tochter vom Pastor.«
»Schön, dass du auch mal wieder da bist, Miriam«, sagt Michael zu mir, und ich grinse schief und denke: Wenn du wüsstest ...
Aber vielleicht tut er das ja? Ich meine, nicht, dass er Gedanken lesen könnte, aber vielleicht hat er ja tatsächlich eine Antwort.
WOHER WISST IHR DAS?
Und er würde antworten: ... keine Ahnung, was.
Weil man das halt so glaubt, in der Kirche. Oder weil man so tut, als würde man das glauben. Oder weil ...
»Heute sprechen wir über das Gebet«, sagt er.
Die Gänse-Fraktion kichert, wie über alles, was er sagt. Ich versuche zu erkennen, ob Michael irgendwie gut aussieht, aber es ist wie bei diesen verschlüsselten 3D-Bildern. Manchmal überkommt einen dieser Moment von Klarheit, wenn man bis in die Tiefe sehen kann. Und manchmal ist alles nur voller Hieroglyphen und man erkennt gar nichts.
Ehrlich – ich weiß es nicht.
»Darüber, dass wir Gott alles anvertrauen können. Unsere Sorgen und Nöte ...«
Nöte. Das ist Bibelsprech. Wer sagt denn heutzutage: Ich habe Nöte?
Ich kenne jedenfalls keinen.
»Ja, Miriam? Du siehst aus, als fändest du das lustig.«
»Äh, nein«, versichere ich schnell. »Ganz und gar nicht. Das ist sehr, ähm, ernst.«
Er schüttelt lächelnd den Kopf. Ich sehe rasch zu Tine hinüber, wie sie darauf reagiert. Mag sie ihn oder nicht? Aber ich kann nichts in ihrer steinernen Miene erkennen.
»Wer möchte was zum Thema erzählen?«
Die Perfekten sind wie immer ganz versessen darauf, ihre Wunder mitzuteilen.
Ihr ganzer Alltag ist von Wundern gepflastert.
Eine Zwei in Latein, obwohl Nele nicht geübt hat – wow!
Katis Vater hat endlich einen Job. Super! (Das ist eine recht häufige Gebetserhörung von Kati. Nur, dass ihr Vater immer bloß Zeitverträge bekommt und nach ein paar Monaten wieder auf der Straße sitzt.)
»Ist es eine feste Stelle?«, frage ich.
»Erst mal auf Probe«, sagt sie und druckst ein bisschen herum.
Die wundersame Heilung einer Grippe nach zwei Wochen Krankheit.
Eine Eins im Biologietest. (Maren schreibt nur ausnahmsweise mal eine Note, die schlechter ist als eine Zwei plus.) Oh Wunder, oh Wunder!
Victoria schießt den Vogel ab: Sie hat ihre Uhr wiedergefunden, die sie vor einigen Tagen verloren hatte, nachdem sie eine Eingebung gehabt hat, wo sie sein könnte. Nämlich in ihrer Jacke, die im Schrank hing.
So was aber auch!
»Miriam?«, fragt Michael. »Hast du auch etwas mit Gott erlebt? Willst du uns daran teilhaben lassen?«
Sei ein braves Mädchen, beschwöre ich mich. Hör auf. Sei still. Du wirst deine Meinung NICHT sagen.
Wann habe ich aufgehört, ein braves Mädchen zu sein?
»Das ist doch lächerlich«, platze ich heraus. »Meint ihr, den anderen, die nicht beten, passiert das nicht? Wo bitte ist da der Unterschied?«
»Ich gebe die Frage weiter«, sagt Michael, was ich nicht ungeschickt von ihm finde. »Wo ist der Unterschied? Was meint ihr?«
»Ähm.« Maren, die Einser-Schülerin, runzelt die Stirn. »Ich bin immer total aufgeregt vor einer Arbeit. Wenn ich bete, bin ich nicht ganz so nervös. Aber das heißt natürlich nicht, dass ich nicht lernen würde.«
»Ich hab nichts getan«, gibt Nele zu. »Ich hatte es vergessen, dass wir den Test hatten, ehrlich. Und dann hab ich gebetet, dass trotzdem alles gut geht. Nächstes Mal werde ich dafür ackern, versprochen!«
»Wirst du nicht«, behaupte ich, und sie grinst verräterisch.
»Mein Vater ist total fertig«, erzählt Kati leise. »Und Mama sagt, wenn wir uns nicht auf Gott verlassen könnten, wüsste sie gar nicht, was wir tun sollten.«
Gleich muss ich heulen – nein, nicht wirklich.
»Aber ihr betet und betet und es geschieht kein Wunder«, sage ich. »Ihr denkt bloß immer, dass es kommt, aber es passiert überhaupt nichts.«
Michael mustert mich mit einem feinen Lächeln. Ich möchte denken, dass ihm dieses Lächeln schwerfällt, dass es ihn ärgert, was ich sage, aber sein Lächeln wirkt echt und wird immer breiter. Aus welchem Grund auch immer, er ist sehr zufrieden mit dem, was ich von mir gebe.
»Glaubst du nicht, dass Gott uns hilft?«, fragt er. Es klingt nicht wie eine Frage, auf die es nur eine einzige, richtige Antwort geben darf.
»Doch«, versichere ich schnell, »aber nicht so.«
Wann habe ich aufgehört, an Wunder zu glauben? War es hier, in der Jugendgruppe, als ich mir den tausendsten Bericht darüber anhören musste, wie Gott einen Schnupfen geheilt hat oder für eine Zwei plus gesorgt hat?
»Vielleicht gibt es Wunder. Aber das sind keine.«
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