Ich schnappe mir das Kissen, in das sie sofort ihre kleinen Hände krallt.
»Hau ab!«
»Das ist aber nicht nett, wie du mit mir sprichst«, sage ich. »Also wirklich, Tabita, wo bleibt deine Höflichkeit?«
Ich werfe mich über sie und ziehe sie von der Matratze auf den Boden, und dann, mit einem Hechtsprung, bin ich selbst auf dem Bett und schleudere das Kissen weg.
Darunter liegt ein ziemlich dickes Buch mit einem Cover in Pastelltönen und dem erstaunlichen Titel: »Das Geheimnis des Grafen.«
»Gib das her!«, kreischt sie.
»Das Geheimnis des Grafen?«, frage ich, immer noch überrascht. Mir wäre nie im Leben in den Sinn gekommen, dass meine kleine Schwester, die allseits korrekte Tabita, Bücher mit solchen Titeln liest. Ich schlage es auf und lese den ersten Satz, auf den mein Blick fällt, laut vor: »Mary schluchzte laut. Der Graf hielt ihr ein seidenes Tüchlein hin, in das sein Wappen und seine Initialen gestickt waren. ›Hier, bitte‹, flüsterte er, und als sie das Tuch nahm, berührten sich ihre Fingerspitzen. – Das ist ja süß.«
»Hör auf zu lachen«, faucht Tabita wütend.
»Du liest Liebesromane? Bist du nicht ein bisschen jung dafür?« Ich halte es hoch, als sie danach greifen will. »Wo hast du das überhaupt her?«
Tabita macht ein finsteres Gesicht.
Ich schlage die erste Seite auf und finde dort nicht etwa den Stempel einer Bücherei. Sondern in feiner Handschrift den Namen: Dorothea Illner. Mamas Mädchennamen.
»Das gehört Mama! Du klaust Mamas Buch?«
»Ich klau sie nicht! Ich – leih sie mir nur aus.«
Ich kann es nicht fassen. Kopfschüttelnd blättere ich weiter. »Sie? Dann gibt es also noch mehr davon? Das wievielte ist es denn? Wo hast du sie her? Aus ihrem Schlafzimmerschrank?«
Meine Schwester starrt mich grimmig an. »Du sagst kein Wort. Wehe!«
»Oh, hier!« Ich kann ein Kichern nicht unterdrücken. »Hier fahren sie mit einer Kutsche durch den Schnee. Wie romantisch! – Der Graf nahm ihre kleine, zarte Hand in seine. Mary wagte kaum, ihn anzusehen. – Warum nicht? Ist er so hässlich? – ›Ich bin von meiner Familie ausgestoßen worden‹, sagte er. ›Ich habe kein Geld. Alle diese Reichtümer gehören gar nicht mir.‹ ›Das macht mir nichts aus‹, hauchte sie.«
Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen.
Tödlich beleidigt dreht Tabita sich weg.
»He«, sage ich. »Ich lache nicht über dich. Nur, das ist so – so schrecklich kitschig!«
Tabita setzt sich auf ihr Bett und nimmt ihr Kissen auf den Arm. »Na und!«
»Ist das überhaupt für dein Alter geeignet?«, frage ich. »Was machen die denn, außer Händchenhalten?«
Sie wird dunkelrot und sagt nichts.
Ich blättere mich durch den Roman, aber außer einem glühenden Kuss am Ende scheint nichts zu passieren. Kein Sex. Nur ein paar verschämte Küsschen zwischendurch, vor dem Mega-Wahnsinns-Schlussakkord-Kuss, bei dem Mary dahinschmilzt. Ich gebe meiner tomatenfarbigen Schwester das Buch zurück.
»Wirst du das Mama sagen?«, fragt sie kleinlaut.
»Nein«, sage ich. »Aber damit hab ich jetzt was bei dir gut, ja? Die Musik bleibt aus. Ich muss Hausaufgaben machen.«
Es ist immer von Vorteil, wenn man noch einen Trumpf übrig hat. Gerade bei Tabita, die ständig so tut, als sei sie der heiligste Mensch auf Erden.
Ich bin natürlich spät dran, trotzdem hoffe ich, die anderen sind noch da und haben auf mich gewartet.
Haben sie aber nicht. Die Bank am Park, unser Treffpunkt, ist verlassen. Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, dass meine Freundinnen hier irgendwo in der Nähe sind.
Wohin jetzt? Ich setze mich auf die Lehne, die Füße auf der Sitzfläche, und höre ein bisschen Musik. Gleich wieder nach Hause zu fahren, darauf habe ich wirklich keine Lust. Dabei habe ich mich so beeilt!
»Hi, Messie!«
Steffi bremst ihr Klapprad ab und grinst mich erleichtert an. Sie ist wohl ziemlich schnell gefahren, ihr Gesicht gerötet, Schweißflecken unter den Armen.
»Sind wir zu spät?«
Ich grinse. »Scheint so.« Fast hätte ich ihr erzählt, dass ich noch Silas’ Hausaufgaben nachsehen musste. Alternativ hätte ich auch im Garten Unkraut zupfen können, aber das hätte noch länger gedauert. Silas erledigt seine Aufgaben mindestens so schnell, wie er redet, und meistens ist ungefähr die Hälfte falsch, aber wenn man nur kontrolliert, ob er sie gemacht hat, statt jede Aufgabe einzeln nachzugucken, ist das eine Sache von zehn Minuten. Aber das interessiert Steffi sowieso nicht. Ihr Stiefbruder Chris ist älter als sie, also kann sie sich gar nicht vorstellen, was ich durchmache.
Sie seufzt, lehnt ihr Rad gegen die Bank und setzt sich neben mich.
»Guck nicht so. Die wird schon nicht zusammenkrachen«, fährt sie mich an.
»Das hast du jetzt gesagt.«
Steffi kann es absolut nicht leiden, wenn man Bemerkungen über die Schwerkraft und ihre Folgen macht.
Sie seufzt wieder. »Du weißt, was Mandy vorhat, oder?«
»Klar«, lüge ich, obwohl ich absolut keine Ahnung habe. Es gibt mir einen Stich, dass Steffi da mehr wissen sollte als ich. Nun, immerhin ist sie schon viel länger Mandys Freundin. Die beiden kennen sich noch aus dem Kindergarten. Auf den ersten Blick passen sie überhaupt nicht zusammen. Mandy, so schlank und hübsch und mit diesem Blick, der selbst Lehrer einschüchtert ... und Steffi, die von den Ausmaßen her recht ... gewaltig ist, um es freundlich auszudrücken. Sie ist gar nicht so schrecklich dick, aber da sie sehr groß ist und breite Schultern hat, wirkt sie viel mächtiger und auffälliger, als wenn sie bloß klein und mollig gewesen wäre.
»Sie will rausfinden, wo der Winkelmann wohnt«, erklärt Steffi freundlicherweise. »Er will ihr ’ne Fünf verpassen. Damit kann sie sich zu Hause nicht blicken lassen.«
Den Winkelmann haben wir in Französisch. Mandy hasst dieses Fach. Auch Steffis Hausaufgabenbeistand nützt nichts bei Vokabeltests und Abfragen in der nächsten Stunde.
»Und was will sie machen, wenn sie das rausgefunden hat?«, frage ich.
»Keine Ahnung.« Steffi zuckt die Achseln. »Ein Drohbrief?«
»Dann weiß er doch sofort, dass sie es war. Das wird sie nicht tun.« Ich ziele mit dem Zeigefinger auf Steffis Brust. »Geben Sie mir eine Vier, ich flehe Sie an! Eine Vier, oder ich schieße!«
Steffi runzelt die Stirn und sieht mich streng an. Sie zieht sogar eine Augenbraue halb hoch, wie es Herr Winkelmann auch immer macht. »Oh Mandy, dieser Versuch rührt mich zu Tränen. Der Kampf um eine gute Note soll nicht unbelohnt bleiben. Nur noch dieses eine: Übersetze das Ganze in Französisch.«
»Oh nein!«, schreie ich theatralisch. »Alles, nur nicht das!«
Ich kippe filmreif von der Bank und röchele mein Leben aus.
Jemand klatscht. Ein anderer imitiert Gejohle – leider nicht laut genug, um echt zu klingen. Beschämt rappele ich mich schnell auf.
Wir haben Zuschauer bekommen. Ein paar Jungs, mit denen Mandy früher öfter rumgehangen hat, bevor ich zu ihrer Clique gestoßen bin. Ich kenne sie vom Sehen.
»Hi, Steffi«, sagt der eine. Er hat ein rundes, pickliges Gesicht und streichholzkurze Haare. Ein Typ der Marke »Was bin ich nur für ein cooler Checker«. Er trägt eine kaputte Jeans, die aussieht, als hätte er sie so zerrissen gekauft, ein schwarzes Shirt und eine goldene Kette. Auch seine Schuhe müssen tierisch teuer gewesen sein, soweit ich das beurteilen kann.
Ich hasse Jungs mit Goldkettchen. Irgendwie sehen die immer nach Drogendealern aus.
»He, Basti. Was machst du denn hier?« Steffi verzieht angewidert das Gesicht. »Und wo hast du die Trantüten her?«
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