Sonntag und Alltag gehen ineinander über, aber eines Tages ist es geschafft. Ane ist wieder auf den Beinen, und Solveig kommt zurück. Beide sehen abgespannt aus, sind dünner geworden und schmaler im Gesicht, aber allmählich kehrt wieder der normale Alltag ein. Herr Fuglevik gibt ihr diesen Monat zehn Kronen extra zum Lohn, er sagt, daß sie für drei gearbeitet hat in der Zeit, als Solveig und Ane krank waren, und daß es ohne sie niemals so gut gegangen wäre. Die Anerkennung macht sie stolz und glücklich. Diese schwierige Zeit hat sie auch mit der Familie hier enger verbunden. Sie hat sich um die Kinder gekümmert und sie über das Schlimmste hinweggetröstet. Und glücklicherweise ist niemand sonst im Haus krank geworden. Unglaublich, daß sie so davongekommen sind. Eines Tages steht Odd im Laden, hohlwangig und blaß auch er, aber seinen Lebensmut und den Humor hat er nicht verloren. Inzwischen ist es November geworden. Schwarz und kahl biegen sich die Bäume in Sturm und Regen. Wenn klares Wetter ist, bleiben morgens bei dem Gang über den Hof Spuren im Reif zurück, und unter den Schuhsohlen splittert die dünne Eisdecke auf den Pfützen. Es geht auf den Winter zu.
Auf Ingebrikts Brief hat sie noch immer nicht geantwortet. Sie war viel zu erschöpft, um ans Briefeschreiben zu denken, geschweige denn Gedichte zu verfassen. Vor lauter Arbeit hat sie fast nicht mehr an ihn gedacht. Einen einzigen Brief hat sie geschrieben, ein paar Zeilen nach Hause, damit sie nicht denken, ihr wäre etwas zugestoßen. Darin hat sie noch einmal darum gebeten, daß Synna sie doch für ein Wochenende besuchen möchte. Ein bißchen berechnend war es schon von ihr, zu schreiben, daß ein Besucher von zu Hause ihr schreckliches Heimweh lindern würde, weil es doch bis Weihnachten und bis sie alle wiedersieht, noch so lange hin ist. Etwas Wahres ist schon daran, aber ihr Heimweh war nie so stark, daß sie sich nach Hause zurückwünschte. Seit sie auf der Amtsschule war, sind ihr der Heimatort, der schmale Fjord und die hohen Berge zu eng geworden. Die Landschaft hier mit der Hustadbucht und dem Meer dahinter ist offen und weit. Um das Meer zu sehen, klettert sie immer wieder gerne auf die Berge, auch wenn ihre freien Stunden knapp bemessen sind. Ob in Sturm oder Stille, nichts fesselt sie wie das Meer. Auch die Menschen hier sind offener und zugänglicher als die zu Hause. Das Gefühl von Freiheit, das sie hier hat, möchte sie nicht mehr missen. Nicht, bis sie eines Tages etwas Besseres findet. Und das wird auf keinen Fall vor dem nächsten Herbst sein.
Vieles deutet darauf hin, daß der Winter bald kommt. Morgens, wenn sie aufsteht, ist es eiskalt im Zimmer. Obwohl sie abends eine Schüssel mit heißem Wasser in eine der Röhren des Etagenofens stellt, ist das Wasser nur noch verschlagen, wenn sie fröstelnd am Waschtisch steht und sich wäscht. Unter der Bluse trägt sie ein gestricktes Unterhemd, und der Rock für alle Tage ist aus warmem Wollstoff. Darüber trägt sie eine karierte, ärmellose Schürze und eine Strickjacke. Sie hat selbstgestrickte Strümpfe, die in der ersten Zeit höllisch kratzen, bis sie sich daran gewöhnt hat, und die Füße stecken in schweren, klobigen Winterstiefeln. Aber diese Kleidung muß sein. Immer wenn ein Kunde in den Laden hereinkommt, bringt er einen Schwall Kälte mit, und auch im Lagerraum ist es eisig. Wenn sie dort draußen war, sind ihre Hände ganz rot und klamm vor Kälte.
Eines Tages kommen zwei Briefe für sie. Der eine, das sieht sie gleich, ist von Synna. Auch die Handschrift auf dem anderen Umschlag kennt sie, die großen, selbstbewußten Schriftzüge, die ihr verraten, daß Ingebrikt der Absender ist. Sie bekommt ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm nicht geschrieben hat. Aber jetzt wird sie es tun und alles berichten, was passiert ist, damit er sie versteht. Auch diese Briefe hebt sie wieder bis zum Abend auf.
Zuerst liest sie, was Synna schreibt. Sie könnte vor Glück jubilieren. Synna kommt schon dieses Wochenende her. Also hat ihr letzter Brief seine Wirkung nicht verfehlt. O wie sie sich freut, und was sie alles machen werden an diesen Tagen. Erzählen, das vor allem, und dann wird sie mit Synna draußen spazierengehen, damit sie die jungen Leute kennenlernt. Eigentlich sollte Tanz sein an diesem Wochenende, doch wegen der Spanischen Grippe und der vielen tragischen Todesfälle wurde er abgesagt. Aber an den Wochenenden treffen sich die jungen Leute neuerdings abends unten am Kai und bummeln die Straße entlang. Sie selbst war noch nicht dabei, weil sie niemanden hat, mit dem sie hingehen kann, doch wenn sie zu zweit sind, ist das sicher kein Problem. Und sie freut sich mächtig, den anderen ihre schöne Schwester präsentieren zu können. Das wird nach der ganzen Trostlosigkeit der letzten Zeit die größte Freude für sie sein.
Aber der Brief von Ingebrikt ist nicht gerade sehr erfreulich. Zuerst liest sie ihn, ohne zu begreifen, was da steht.
»Es ist Schluß!« schreibt er. »Nun ist dieser Wahnsinn, der mir Jahre meines Lebens geraubt hat, vorüber!«
Das schreibt er! Dann schreibt er noch, daß er ein Idiot war, an sie zu glauben, und daß er in den Jahren seit ihrer Konfirmation nur für sie und keine andere Augen hatte und was er dabei nicht alles versäumt hat. Er hätte viel früher merken müssen, daß solche wie sie treulos sind und mit den Gefühlen anderer spielen.
Er sagt, daß sie dünkelhaft ist, daß er selbst und die Zukunft, die er ihr bieten kann, wohl nicht gut genug für sie sind. Aber sie soll sich davor hüten, andere so zu behandeln, wie sie ihn behandelt hat. Sonst könnte es passieren, daß sie ihr Leben lang allein bleibt. Außerdem ist sie kalt, er hat sie kaum einmal berühren dürfen, ohne daß sie frostig reagierte, sich hinter ihrem Lächeln und ihren unergründlichen Augen versteckte. Unehrlich, das ist sie zu ihm gewesen. Dieses Mal hatte er erwartet, daß sie ihm zuerst schreibt, um zu beweisen, daß ihr die ganze Sache etwas bedeutet. Und wie glücklich war er, als er ihr kleines Gedicht erhielt. Aber jetzt hat er es gründlich studiert und erkannt, daß sie es nicht ernst meint, daß es für sie nur ein leichtsinniger Traum ist. Und dann das Allerletzte, ihre totale Gleichgültigkeit, die sie damit bewiesen hat, daß sie auf seinen Brief nun überhaupt nicht antwortete, das hat ihn mehr verletzt als alles andere. So sehr verletzt, daß er sie gänzlich aus seinem Herzen und seinen Gedanken gestrichen hat. Er wird mit ihr kein Wort mehr wechseln, als es die Höflichkeit verlangt, schreibt er. Alles ist aus, und zwar von seiner Seite endgültig. Alle Erklärungen sind zwecklos. Er bittet sie, alle Briefe, die er ihr geschrieben hat, zurückzuschicken. Die Brosche von ihm, die kann sie behalten.
Die Worte fördern einen Menschen zutage, den sie nicht kennt. Wie kann er es wagen, ihr so etwas zu schreiben? Daß er den Brief voller Enttäuschung, Zorn und verletztem Stolz geschrieben hat, ist offensichtlich. Ja, aus verletztem Stolz, das vielleicht am ehesten. Aber mußte er deshalb gleich so gemein werden und ihr schreiben, sie sei unehrlich? Sie, die Ehrlichkeit höher schätzt als alles andere?
Die es gerade für besonders ehrlich hielt, ihm zu sagen, daß sie noch Zeit braucht, bevor sie sich fest bindet. Denn das ist in ihren Augen doch die wichtigste Entscheidung, die ein Mensch überhaupt treffen kann. Der Entschluß, eine Bindung für den Rest des Lebens mit einem anderen Menschen einzugehen. Und kalt soll sie sein? Weiß er, was sich in ihrem Innern abspielt? Entflammt war sie für ihn. Voller Glut. Wenn sie mit ihm zusammengewesen war, spürte sie ein Feuer im Körper, das sie bis tief in die Nacht wach hielt. Was hat er denn von ihr erwartet, daß sie sich wie eine Dirne verhält? Darf er ihr zur Last legen, daß sie anständig geblieben ist? Was stellt er sich vor, er, der Pastor werden will?
An diesem Abend braucht sie mehr Petroleum und mehr Feuerholz, als sie sollte. Herr Fuglevik wird ihr das nachsehen, sie braucht jetzt einfach Licht und Wärme in ihrem Zimmer, und die Nacht wird lang werden. Denn das muß sie erst einmal verkraften, damit muß sie erst einmal fertig werden.
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